Di, 30.3.10 (Mi, 31.3.10, 7:08): Reiz des Uneigentlichen

Eigensinn ist bei Negt/Kluge einer der wichtigsten Topoi, wie ich vor bald 14 Jahren in der Hochzeit des Literaturwissenschaftsstudiums lernte. Der Eigensinn des Materials, seine Art “Willen” noch vor der “Vorstellung”, macht die Sprachen der Kunst, ihre Ausdrucksformen zu uneigentlichen. Form (Bedeutendes) und Inhalt (Bedeutetes) sind so auf immer wieder reizende Weise inkongruent, dialektisch. Kunst als der Vorgang, Prozess, der Streit von These und Antithese, weniger deren zur Statik des Letztgültigen, Fertigen neigende Synthese.

Zu spät aufgewacht (dennoch eigensinnig die Ökonomie der nach Minuten zählenden Zeit berücksichtigende Vorbereitung: Waschen, Fönen, Legen) zum Interview mit Gerald Eckert. Frühling des Denkens an der Förde, sich entwickelnd im Gespräch, knospend in den Begriffen, deren Blütengestalt zu formen, dann meine Aufgabe sein wird im Artikel für die Monografie über ihn. Das zwischen Tür und Angelnde. Ich hab’ keinen Plan, er hat keinen. Ist auf dem Sprung nach Pacific Palisades zum dreimonatigen Stipendium in der Villa Lion Feuchtwangers.

Am Pazifikküstchen der Förde Reden über das Uneigentliche, den Eigensinn des musikalischen Materials, das sich in asymptotischen Grenzannäherungs- und -überschreitungsprozessen (Tunnel-Effekt!) manifestiert. Es geht um die “Anreicherungen”, die sich im Abstrakten herausbilden, um Beständiges, weil im Entstehen (oder Vergehen), um Fluktuationen, um Unschärfen, die sich gerade im streng Determinierten ergeben.

… jetzt mal so vorläufig und vorauseilend hörsam in den Skizzenblock geraunt …

Eckert: “Das Nichts ist nicht nichts, nur eine Abwesenheit des Nicht-Nichts.” Das da Seiende ist nämlich dann besonders da, wenn es gerade nicht “am Platz” ist – bitte rufen Sie später nochmal an; oder: ich rufe zurück. Oder anders kassibert: Das Wesentliche als Eigentlichkeit des Wesens wird in seiner Abwesenheit besonders gegenwärtig. “Kampf ums Dasein, um die Körperlichkeit” nennt Eckert das, ohne damit sowas wie Daseinskampf zu meinen. Der Kampf erfolgt ohne jeden Krampf, geradezu entkrampft, wenn das Da nicht da ist, sondern abwesend. Wobei mir einfällt, dass “abwesend Sein” ja auch eine Metapher für eine Art meditativer Versenkung ist, für eine besonders “da-e” Form des Daseins.

Nach dem Interview gehe ich an der Förde entlang, nordwärts rund 200 Meter vom “Blauen Engel” bis zur Hauptpost an der zollvergitterten Hafenlandschaft vorbei. Auf Reede die Schiffe, dieses Kiel-geholte Postkartenbild auf einmal sehr scharf, sehr farbig, sehr “da”. Dies bemerkend bin ich, werde ich abwesend.

Noch mit solchen Obertönen im Hirn heim zu Lilly. Und Aufbruch in die soul-musik-begeigten (später hören und schauen wir bei YouTube Shakira) Shops. Lilly stellt sich eine Kollektion zusammen. Noch in Tüten scheint die mir uneigentlich, eigentlicher, da-seiender, wenn sie die auf unserer Matratze ausbreitet. Das ist Kunst, da passt eines zum anderen, fügt sich in sowas wie Konzept und bewahrt doch seinen Eigensinn. Ich bin geradezu bestürzt von ihrem Formwillen, der luzide bis lasziv mit den konnotierten Inhalten spielt. Strümpfe mit nur 20 DEN, schwarz. Zehensinfonien. Und wie sie badet.

Die Anwesenheit von Kunst, von Ewigem im scheinbar nur Alltäglichen, Ephemeren.

Noch eins-zu-einse, undialektische, eigentliche, entfremdet entfernte Arbeit danach in der Nacht. Doch noch ist sie wach, stundenplant die Zukunft, unsere Tage, die Nächte, die Wochen, die kommen, die Monatszyklen, die Jahre. All das wird kommen, ohne dass wir gehen müssen.

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