Die Mühen der Ebenen auf dem Zaubergebirge

Seit gestern verlegt. Ende der Krankenhaushaft, nunmehr Hans Castorpsch auf dem Zauberberg der Ostseeklinik Schönberg-Holm.

Zauberbergisch insofern, als dass es hier Einzelzimmer gibt mit Balkon. Auf dem mit „Therapiedecke“ sitzend, dreimal-tägliche Asthma-Inhalation,

Röntgen-Thorax-Erinnerung

an die notwendige Ganzheitlichkeit der Anschlussheilbehandlung nach arterieller Bypass-OP und erfolgreicher Revolution gegen eine 3-Gefäß-Erkrankung einer progredierenden Koronaren Herzkrankheit.

Zauberbergisch insofern,

als sich die Neuankömmlinge ihre Krankengeschichten wie LibeLungenLieder erzählen. Am Esstisch neben mir nicht Frau Stör, die 24 Fischsoßen auswendig kochen kann, sondern ein Dickschiff, das wie ich seit Jahrzehnten gegen das Übergewicht segelt. Störtebäckerin, die sich der Diät schnippisch verweigert. Heimlich kauft sie in der Cafeteria Sahnetortiges. Gewieft in der Verbergung solcher Sucht, was sie sympathisch macht, weil auch ich diese Heimlichkeiten etwa der Alkoholsucht kenne. Diabetikerin, was mir noch erspart blieb. Herz kaputt. Krank am Fettsein. Dabei durchaus hübsch noch wie hoffnungslos, ein kleines, breites Fräulein, das keinen Fisch mag, davon wird ihr schlecht, von all den Omega3-Fettsäuren.

Sie sitzt am rechten Hang meines Zauberbergs. An der Eige[r/nsinn]-Nordwand hingegen G., Schwuchteltyp, ganz bestimmt schwul und enorm anorektisch. 1,87 Länge trifft auf 66 kg Gewicht. Schwer krank, erschöpft, weil jede Kalorie verbrennt, bevor sie eingeführt wurde. Er soll das Gegenteil von der Störtebäckerin und mir, nämlich zunehmen. Auf seinem Teller häufen sich unsere falschen Fette, die Zucker feiern fröhlichste Urständ, allein, er kann nicht zunehmen. Fünf Kilo will er dennoch schaffen in den kommenden drei Wochen.

Wir flachsen, dass wir uns gerne gegenseitig was abgäben. Leider geht das nicht. So schleppen sich die Störtebäckerin und ich knäckegebrotet vom Tisch, G. aber humpelt muskellos von dannen, ein Strich in der Landschaft, eine einzige Unscheinbarkeit gegenüber Störties und meiner Beleibtheit.

Ich derweil: Genosse Herzchen wiederhergestellt, revaskularisiert, baumstämmt, möchte welche ausreißen. Aber ist natürlich noch viel zu schwach, weil zu frisch operiert dazu.

25 W bringe ich aufs Ergometer. 50 wenigstens würde ich gerne, aber das ist noch verboten. Leichte Spaziergänge, maximal 1 km darf ich. Ansonsten ist Ruhe noch verordnet.

Auf der Treppe merke ich, dass Herzchen doch noch nicht so kann, wie es schon könnte. Die Möglichkeitsform zukünftiger Bewegung. Man empfiehlt mir Geduld. Die OP wird von anderen schwerer beurteilt als von mir. Ich komme mir schon wieder gesund vor, allein nach dem überstandenen Gebirge folgen die Mühen der Ebenen.

So zitiert Brecht ein Genosse aus Leipzig in der Übergewicht-Diskussions-Selbsthilfegruppe. Dort erzählen wir unsere „Essgeschichten“, um dem Weg ins Übergewicht die Kilogrammmeilensteine nachträglich abzulesen. Geschichten der Sucht, der Selbstvergessenheit, des nicht auf sich Achtens. Des sich auf Raten ins Grab Fressens.

Plötzlich fast tränende Sympathie für meine Leidensgenossen. Der Mensch, ein verlorener. Und dennoch, gemeinsam …

Noch drei Wochen hier, oh spanne mich doch aus, Bach … Die Kantate im Sinn, würde ich sie gerne allen vorsingen. Allein, hier kennt keiner meinen Bach, nur meinen Bauch. Denn von weit – hörst du? – rauscht in Stille und so vertraut das Meer vom Untergehen wie vom Wiederauftauchen angeschwemmter Leichen.

Dieser Beitrag wurde unter ByeByePass veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu Die Mühen der Ebenen auf dem Zaubergebirge

  1. Daniel sagt:

    schöner text. dein unfreiwilliger sanatoriumsaufenthalt verschafft dir aber dringend notwendigen freiraum für heilsame selbsterkenntnis. cu in holm. D.

  2. Helmut Schulzeck sagt:

    Liebe Jörg,

    vielen Dank für Deine bewegende, anregende und durchaus z.T auch erheiternde Nachricht. Kleine Königsmomente den dosierten Ironie. Besser als kulinarische Köstlichkeiten. Wundersame Wege der Sublimierung. “All we need is LOVE!”. “For Shure!!!”

    Jetzt kannst Du ja “wunderbare” literarische Feldforschungen betreiben. Dein “Erlebnis-Bericht”, dosiert gespickt mit belesenen Reflexionen, gefällt mir sehr gut. Du solltest ihn unbedingt fortführen. Der Anfang ist ja sehr vielversprechend. Vielleicht kannst Du die Texte ja später zu einem ganzen zusammenfassen, für Fans wie mich.
    Hast Du dort in Deinem Reha-Zimmer jetzt auch eine Festnetznummer?
    Beste Erholung, gesundheitliche Besserung, körpergewichtliche Abnahme und herzliche Grüße
    Dein Freund Helmut

  3. Helmut Schulzeck sagt:

    Auch sehr gute Fotos! Danke!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.