Zauberberg, Patientenrestaurant

Inzwischen kennt man sich, 3 mal täglich gemeinsame Mahlzeit am Tisch, und Typen werden sichtbar.

Ich eher schweigsam, Modus „this is a recording“, langsam kauend, die wenigen 1.000-Kalorien-Bissen. Kauen statt sprechen. Aber zuhören:

G., der Anorektische aus Hessen, dem Dialekt nach. Mitteilsam und – „Isch lasse misch nisch hetze’!“. B., die Voluminöse, die gleichwohl eher verhärmt wirkt. Opposition gegen ihre Diät und die Berichte von ihrer Geschicklichkeit bei deren Hintergehen. Ich ja eher der Typ vorauseilend nachhinkenden Gehorsams, bisschen eingeschüchtert von all den ärztlichen Verordnungen, Warnungen und Ausrufezeichen. Platz 4 heute neu besetzt, noch zu beobachten: eine vergleichsweise Schönheit (abgesehen mal vom Goldkettchen-gebräunten G. ;-)) in ihrer Beleibtheit. Ein „Moppelchen“; der Unterschied zwischen dick und fett. Sie ist dick und daher schön.

Alle verbindet ihr jahr(zehnt)elanger Kampf gegen die Kalorien, so oder so (G. zu dünn, wir anderen zu dick). Und der Modus Meckern, der sich einstellt. Patientensolidarität gegen vermeintliche Fehler der Klinikorganisation und vor allem der Küche. Warum gibt’s schon wieder keine Tomaten? Und wieso schmeckt die „Läbrwurscht“ (G.) nach nix? – Weil Majoran fehlt. „Des können die Mätzg’r hier nisch!“ Und dann „Frau Stör“ wegen der Brühe. Was nämlich wirklich seltsam ist: Gemüsebrühe samt Einlage (paar Erbsen und Karotten) gibt’s nur für den, der „Verordnung“ von der Diätassistentin dafür hat. Andererseits steht sie manchmal am Büffet und jeder kann sie sich nehmen. Nicht ganz nachvollziehbar. Und jede Menge Gesprächsstoff liefernd beim Löffeln derselben, so oder so „erworben“.

Überhaupt, die Kranken: Manche sehen krank aus, manche gar nicht. Aber krank sind sie alle, sonst wären sie nicht hier. Dennoch deutliche Häufung von Versehrten, denen man auf den Fluren begegnet, selber ein solcher, dies nur noch nicht so genau wissend, aber immer schon gewusst.

Und die seltsamen Strategien, die Kranke entwickeln, ihre Krankheit entweder zum Lebensinhalt und daher Hauptgesprächsstoff zu machen, manchmal geradezu wie in einem olympischen Wettbewerb, was man alles hat, dennoch unverwüstlich ja ganz offensichtlich immer noch da ist. Krankheitsgewinn: Sieg gegen all diese Unbill, aber davon unbedingt gezeichnet wirken.

Die anderen: Verleugner: Ich bin gar nicht wirklich krank, das sagt nur der Arzt. Auch nicht bloß Uneinsichtigkeit, sonderen eine Strategie, weil nämlich das Konzept Krankheit ohnehin ein zu hinterfragendes, präzisierendes ist.

Heute in der Gesprächsgruppe Übergewicht (die Psychologin, so’ne typische mit dieser Weicheisenstimme, diesem Säuseln, diesem gespielt-gewünschten „Ich gehe auf Sie ein“, diesem Augenaufschlag auch, wenn sie ein „Phänomen“ entdeckt, also Diagnose heimlich stellt) plötzlich Kampf gegen Weinanfall. Bei der Auflistung an der Flip-Chart, was alles teufelskreist, wie man sich dreht und wendet und autoaggregiert, sich sabotiert, sich letztlich umbringt, „Selbstmord auf Raten“, wie sie aufzählt: der eine raucht, bis er nicht mehr atmen kann, der andere arbeitet bis über die Erschöpfung hinaus, der dritte säuft sich jedes Empfinden weg, der vierte frisst sich und damit jeden Genuss zu Tode …, muss ich hinter all den ersteren bis vierteren ein Häkchen machen. Das Gefühl, ganz verloren zu sein, unheilbar, verzichtbar, weil selbst auf keine dieser Ausweichungen vor der „Selbstverantwortung“ verzichten zu können … plötzlicher Tränenandrang.

Meine Krankenstrategie: Ich bin schlauer als die Ärzte, ich bin eh ein Sonderfall. Die haben nicht den „Zauberberg“ gelesen, nicht „Tod in Venedig“, nicht „Dr. Faustus“, wissen nichts von Thomas Manns These, dass Kunst nicht geht ohne diese mutwillige Nähe zum Tod. Und dann aber plötzlich diese kleine, labend labernde Tröstung meiner „Mitgefangenen“, wie sie mich anschauen, wie auch die Psychologin mich anschaut: Trost! Und der, weil das alles so menschlich ist, so verstehbar, so Leben statt Kunst.

Dies der Ausweg? Oder G., sein verrücktes Lächeln, das Moppelchen mir gegenüber mit einiger erotischer Anziehung, B., die zwar nicht Strategin, aber immerhin Taktikerin der Hintergehung des Betriebs, der heißt: ICH?

Und neben all dem am Abend, der sich auch gestimmt aufhellt: Ein Sommer, ein Feld mit Kornblumen, ein Seitenblick. Nebenan der Narben, nebenan meiner Kunst, meiner Worte.

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2 Antworten zu Zauberberg, Patientenrestaurant

  1. Helmut sagt:

    Zum “ReKonvalenz-Rapport vor Ort”
    Lieber Jörg,
    “Dein Rapport”
    wieder sehr lesenswert, … macht auch schon neugierig auf die nächsten Texte…
    Ich sollte wieder Thomas Mann lesen, “stecke” jetzt aber gerade bei Lars Gustafsson,
    kennt den heute überhaupt noch jemand (?), in den 70ern und 80ern wurde er viel gelesen … lese gerade zum 2. Mal “Die Tennisspieler” nach ca. 25 Jahren …
    Thomas Mann war, glaube ich, Hypochonder oder(?). Sehr penibel im Tagesablauf, fleißig, hat sich aber meines Wissens nie bis zur Erschöpfung abgearbeitet wie Du … ging früh zu Bette, stand mit den Hühnern auf u.s.w.
    und erlangte (doch !) ein hohes Alter [80 Lenzen und ein Paar (!) Monate] …,
    … auch zur mutwilligen Nähe zum Tode reizt es mich, bezüglich der Mannschen Vita einiges Oberlehrerhaftes hinzufügen, aber das lass ich jetzt mal …
    beste Erholung,
    viel Erfahrung, beste Momente,
    wir “brauchen” Dich noch sehr sehr lange,
    das hört sich jetzt aber an, als würde ich einem Rentner im gesetzten Alter schreiben und zum 80. gratulieren:-))) — ist aber gaaaaaaaaaaaaaaanz anders gemeint.
    Liebe Grüße
    Helmut

  2. Helmut sagt:

    und wieder: ein super Foto! Danke!

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