Die Schuld der Sühne

(unvollständiges) Protokoll einer Debatte (samt neuerlich dazwischen gefügter Einwürfe)

Alban Nikolai Herbst schrieb in seinem Blog „Die Dschungel. Anderswelt“ dies – Eröffnung einer Debatte, die ich mutwillig, weil ich (es ihr) schuldig war, auf ein anderes Gleis führte:

Ich, der Rassist. (Anstelle eines Arbeitsjournals. Am Sonnabend, dem 19. Januar 2013.)
Es wird so weit kommen, daß man mich einen Rassisten nennen wird, egal, ob ich es in meinem Verhalten oder meinen Handlungen gegenüber anderen Hautfarben, Kulturen, Religionen bin. Gegen eine Umschreibung von Zeitdokumenten zu sein, worunter selbstverständlich auch Kinderbücher fallen, früher geschriebene, aber auch heutige, genügt. Aus der Weigerung, bestimmte Wörter nicht löschen zu wollen, weil man Geschichte als Geschichte gegenwärtig halten will, wird, daß man […] ein Wort und seinen gegenwärtigen Gebrauch verteidige, und daraus wird dann, wer das tut, ein Rassist. Auch wenn man eben nicht den gegenwärtigen Gebrauch verteidigt.
Sich gegen einen Strom zu stellen, bringt notwendigerweise viele Gefahren mit sich, darunter nun auch diese. Daß es eine ist, dem sehe ich durchaus klar entgegen, alleine meinem Gewissen und meiner eigenen Überzeugung verpflichtet, und zwar eingedenk des Umstands meiner Herkunft [Anm. d. Verfassers: ANH aka Alexander Michael von Ribbentrop ist der Großneffe Joachim von Ribbentrops, Reichsminister des Auswärtigen 1938 bis 1945, und wurde und wird ob solcher familiärer Herkunft immer wieder – zu Unrecht (zumal es in seiner Familie auch Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gab) – angegriffen], der, die immer schon ein auch öffentlicher Anlaß war, mich zumindest indirekt zu diffamieren. Ich weiß von daher sehr gut, was Diskriminierung bedeutet – in meinem Fall für schwer schuldhaftes, ja untilgbar schuldhaftes Tun besonders eines meiner Vorderen; insofern verstehe ich aber sehr gut die Verletzungen derer, die sich von Wörtern wie „Neger“ heute verletzt fühlen.
Ich glaube indes, daß wir alle, was einmal gewesen ist, tragen müssen, ebenso nämlich, wie wir insgesamt unsere Herkünfte tragen und einen Umgang mit ihnen finden müssen – wir müssen ein Verhältnis zum einmal Geschehenen entwickeln, das dieses Geschehene nicht leugnet und gerade aus der Überwindung des Geschehenen, das selbstverständlich in die Künste geronnen ist, S t o l z entwickeln. Und stolz uns in die jeweils neue Zeit eingeben.

[Es folgt ein Diskurs über die nachträgliche Tilgung von Begriffen in (Kinder-) Büchern, die ich hier nicht weiter zitiere, weil mein Einwand in Sachen „Erbschuld“ bewusst von ihm ablenkte.]

ögyr meinte am 2013/01/19 11:46:
solcher, Ihr Furor …
… gegen die so genannte „political correctness“ und ihre un-historische Begriffsverheerung ist zwar berechtigt, verwirkt aber seine Berechtigung gerade dadurch, dass der Sprecher sich gegenüber den Opfern der Unsprache selbst als Opfer geriert. Und zuweilen […] die sonst hohe Ebene der Verfertigung der Gedanken zu jener simpler Polemik verlässt, die er – wie gesagt mit Recht – kritisiert. […] Was mich eher bekümmert, wie sehr „deutsch“ hier wieder anklingt, dass der schuldbeladene Deutsche doch in seiner Sprache zumindest nicht der Täter sei, wenn er sie verteidigt. Um es klar zu sagen: Deutsche, welcher politischer oder denkungsartiger Couleur auch immer, waren und bleiben – auf alle Zeit! – Täter und haben somit kein Recht, sich – selbst über fehlgeleitete Sprachkritik – hinwegzusetzen – zumal nicht mit solcher Wortgewalt. Das mag apodiktisch klingen, ist aber hier angebracht – sorry …

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/19 11:59:
Scharfes@ögyr Veto!
Ich bin kein Täter, noch ist es mein Sohn. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, ja faschistoid-selbst, die schwere Schuld von Toten auf Kinder zu übertragen, die diese toten Verbrecher nicht einmal gekannt haben.
Das heißt nicht, daß ich nicht für die Geschichte meines Landes und meiner Kultur einstehe, im Gegenteil: Es erwächst daraus für mich eine Verpflichtung. Diese kann aber nicht auf andere übertragen werden, sondern man selbst nimmt die Verpflichtung an oder nicht.
Eine Pflicht zu schweigen zu irgendwelchen politischen oder andersmoralischen Vorgängen habe ich nicht. Ich wurde 1955 geboren, zehn Jahre nach dem, endlich!, Untergang des Dritten Reichs. Ich bin nicht schuldig. Und werde genau das für jedes Neugeborene verteidigen. Und für jeden jungen Menschen, auf den man die Schuld projeziert.
Ihre Haltung entspricht derjenigen eines Richters, der für die nichtgesühnte Vergewaltigung durch den Großvater dessen Enkel hinter Gitter bringt. Anders gesagt: Hier argumentieren Sie, nicht ich, völkisch.

Haben Sie Kinder? Falls nicht, fällt es Ihnen alleine deshalb leicht – leichtfertig und inhuman ist es, zu schreiben, was Sie hier schrieben. Lehnen Sie sich einen Moment zurück und denken, bitte, mal nach.
Antworten

ögyr antwortete am 2013/01/19 12:11:
@scharfes Veto
Ich fand meinen Einwand recht konsiliant. Ob Ihres scharfen und unreflektierten Vetos fühle ich mich eher bestätigt in meiner – ebenso apodiktischen – Argumentation. Unser beider Positionen gegenüber der deutschen Schuld – über alle Generationen – sind gleichwohl so abgenudelt und verbreitet in den jeweils zwei Lagern, dass wir das nicht weiter zu vertiefen brauchen. Reichlich seltsam finde ich dennoch Ihre Frage, ob ich Kinder habe. Habe ich nicht. Aber was ist das denn für eine Diskriminierung meiner Argumentation, nur weil sie dreie haben (ihren Sohn und die Zwillinge)? Das macht mich jetzt etwas ratlos. Könnte es sein, dass Sie sich etwas verrennen? Es sei Ihnen zugestanden. Sie finden mich dennoch zurückgelehnt und durchaus nachdenklich.

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/19 12:23:
Kinder@oegyr.
Es ist ein Argument des Erlebens. Sätze, wie Sie sie da schrieben, könnten Sie nicht schreiben, stünden Sie vor einem Kleinkindsbett; Sie sagten da nicht, und zeigten aufs Kleine: „Das ist schuldig. Das muß büßen.“ Es sei denn, Sie wären Sadist.

[…] Was aber die Täterschaft anbelangt und den Täter, der sich zum Opfer mache, so liegen auch hier die Dinge komplizierter. Ich war nie ein Täter, aber wurde als Kind, in der Schule, als einer behandelt, auch von Lehrern. Das lag alleine an meinem Namen. Die einen haben dunkle Haut, die andren einen Namen. Die Dynamik ist fast immer die gleiche.
Damit haben Sie allerdings recht, daß ich kein Opfer bin. Ich bin es nicht mehr, schon seit langem nicht. Es kostete aber ein bißchen Anstrengung, mich da rauszudrehen. Mein Vater hat sich reingedreht, da hinein und in die Schuld, die er überhaupt nicht hatte. Es gibt kaum etwas Widerlicheres als den Erbschuldgedanken; nur noch seine Durchführung ist schlimmer.

[…]

ögyr antwortete am 2013/01/19 12:25:
@Keuschnig
Ich will Ihnen keine Täterschuld andichten, Sie haben sie als Deutscher – punktum (wie gesagt, ich argumentiere nicht weniger apodiktisch als ANH). Wenn sie das nicht so sehen, überlassen Sie es doch bitte mir, jedenfalls für mich diese Schuld zu bekennen und anzunehmen. Sie haben Recht, das könnte man auch als rhetorischen Kniff sehen, der sich wiederum entschuldet, indem er die Schuld ostentativ auf sich nimmt – auch typisch deutsch, da ähneln sich die deutschen Leugner und Bewussten der Schuld. Und wie Sie sehen erfasst mich der herbstsche Furor selbst …

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/19 12:41:
2. Mose 20, 5.
Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HErr, dein GOtt, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen.
Mehr werde ich zu diesem Seitenthema der Diskussion nicht mehr sagen. Sondern führe zurück auf den eigentlichen Gegenstand des Beitrags, in dem es um nachträgliche Revisionen in Büchern geht.

ögyr antwortete am 2013/01/19 12:46:
@Kinder
Da ich den Marxschen Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, für wahr halte, will ich Ihnen dieses Argument zugeben, dass mir womöglich erlebtes Sein (und damit Bewusstsein) fehlt, was den Blick in Kinderbettchen und -augen betrifft. Nicht zugeben kann ich Ihnen indes, dass meine Argumentation am „eigentlichen Thema“ vorbeigehe […]. Ich habe eher den Eindruck, dass mein Einwand auf das Wesentliche Ihrer Argumentation zielt, nämlich den darin verborgenen, unterschwellig mitschwingenden Versuch Ihrer Ent-Schuldung, der, wie ich nicht das erste Mal bei Ihnen lese (und das solidarisch und voller Interesse), Sie schon seit Jugendzeiten umtreibt. Sie werden dennoch bemerkt haben, dass ich Sie nicht wie die 68er und ihre Adepten reflexhaft als Träger eines schuldbeladenen Familiennamens anklage, sondern Sie wie jeden Deutschen, auch die Kinder und Kindeskinder, und damit auch mich, geboren 1964, nicht aus der Schuld entlassen will, die m.E. eben unabhängig von Herkunft oder familiärer Verstrickung in den Völkermord der Nazis für jeden Deutschen auf ewig besteht. Beim Umgang mit solcher Schuld kann man freilich dennoch das Haupt hoch tragen, indem man sie als Auftrag zur Verantwortung sieht. Und meistens tun Sie das ja genau so – nur hier sind Sie weinerlich ob dessen, dass Ihnen vermeintlich jemand das Wort – das [M]aterial des Dichters – verbieten will.

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/19 14:51:
Völkisch@Keuschnig.
Wenn an [Ö]gyrs Meinung etwas wäre, stellte sich die bizarre Frage, ob denn die neuen Deutschen, um deren Schutz es in dieser Diskussion doch offenbar geht, ob diese neuen deutschen Bürger mit Migrationshintergrund denn auch Schuld an den Verbrechen der deutschen Vergangenheit trügen, ob nun auch sie mitzubüßen hätten, eben, weil sie Deutsche seien? Oder ob sich die Berufung auf Erbschuld nicht doch besser aus einer Stammeslinie ableiten läßt, was freilich [Ö]gyr […] bestreitet. Denn der komplette Anlaß des Streites würde ansonsten ad absurd[um] geführt.

Jörg Meyer / ögyr antwortete am 2013/01/20 16:05:
@ANH/völkisch
Über dieses Argument hab’ ich lange nachgedacht, zumal es die „moralische“ Diskussion über den Allgemeinschuldbegriff gleichsam „logisch“ zu widerlegen versucht. Ich würde mal so antworten: Die Schuldzuweisung an ALLE Deutschen bezieht sich – im Sinne einer für die Schuld zu tragenden Verantwortung, nicht im Sinne von „Reue“ oder „Büßertum“ – auf all jene, die Angehörige des deutschen Kulturraums sind, sprich in und mit diesem aufgewachsen sind. Richtig ist, dass dieser Kulturraum inzwischen mehr und mehr schwer zu definieren ist, indem er durch Einwanderung andere[r] Kulturen, z.T. bereits in dritter Generation, mehr und mehr „verwischt“ oder auch „multikulturell“ sich neu gestaltet.

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/20 17:37:
@Ögyr und zu Keuschnig: Mischland.
Da liegt eben, meines Erachtens, der Fehlgedanke. Deutschland ist nämlich immer Misch- und Einwanderungsland gewesen. Auf welche Angehörigen des deutschen Kulturraums beziehen Sie sich denn? Zum Beispiel ist eine deutsche Kultur, schon gar eine des deutschen Kulturraums, ohne den jüdischen Anteil schlichtweg nicht vorstellbar, und tatsächlich haben sich sehr viele jüdische Bürger mit diesem Kulturraum identifiziert, von Kafka über Kraus, der ein erbitterter Fürredner der Assimilation war, bis Benjamin und lange nachher nachfolgende.
Nie bestritten habe ich eine Verantwortung, im Gegenteil, ich habe sie sogar herausgehoben, aber als eine nicht wegen einer Schuld, die ich zu verantworten hätte, das habe ich in der Tat nicht, sondern als Aufgabe, die eben meine Kultur mir stellt. Ich kann sie annehmen oder auch nicht. Fest zu definieren war gerade der deutsche Kulturraum nie, und zwar insofern er in keiner Zeit der Geschichte mit den Nationalgrenzen übereinstimmte.
Sie geraten mit Ihrer Zuweisung aber durch den Ausschluß in heftige moderne Probleme, denn gerade die Deutschen mit Migrationshintergrund in der zweiten, bzw,. dritten Generation legen besonderen Wert darauf, als Deutsche vollkommen akzeptiert zu sein. Und eben das schwingt in der Diskussion der Buchveränderungen ständig mit. Wieso soll dann der eine „volle“ Deutsche mehr verantwortlich sein als der andere? Das ließe sich nur durch Erbfolge begründen, abgesehen davon, daß sehr viele junge auch in der Erbfolge stehenden Deutschen zur deutschen Kultur einen sehr viel geringeren Zugang haben als zur US-amerikanischen, mit der sie sozialisiert wurden. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, wird er in der Tat gefährlich, kulturell gesehen, weil er letztlich auf Auslöschung der deutschen Kultur hinausläuft, damit damit auch auf Auslöschung großer Teile der Aufklärung.
Es ist nicht einzusehen, daß, wenn so etwas denn sein soll, es nicht auch Folge der im Namen anderer Kulturen verübten Pogrome gelten soll. Auch hier proklamieren Sie abermals einen Sonderstatus der Deutschen, ja des Deutschen. […] Ich schrieb in dem Zusammenhang einmal von der negativen Selbstheroisierung der Deutschen. Genau sie steht einer tatsächlich Verarbeitung der Vergangenheit entgegen und meißelt die Schuld als einen W e r t fest.

Jörg Meyer / ögyr antwortete am 2013/01/21 15:43:
@ANH zu Mischland (und zu Ögyr)
ANH schrieb: Zum Beispiel ist eine deutsche Kultur, schon gar eine des deutschen Kulturraums, ohne den jüdischen Anteil schlichtweg nicht vorstellbar, und tatsächlich haben sich sehr viele jüdische Bürger mit diesem Kulturraum identifiziert, von Kafka über Kraus, der ein erbitterter Fürredner der Assimilation war, bis Benjamin und lange nachher nachfolgende. Wohl wahr – und wohl noch ein besseres Argument gegen mein Beharren auf der Allgemeinschuld „der Deutschen“ (wer die seien, steht in der Tat in Frage) als alles andere Hahnebüchene, das hier zuweilen von anderen Diskutanten dagegen geäußert wurde. Allerdings: Auch Sie begeben sich hier auf das sehr dünne Eis der Behauptung, dass die Juden auch ein bisschen selbst Schuld seien an ihrem Holocaust. Ich weiß, Sie meinen das überhaupt nicht so, aber es gibt in solchen Debatten seit dem „Historikerstreit“ welche, die das als Material für ihren nur schwach verhehlten Antisemitismus verwenden. Sie könnten also Beifall von ganz falscher Seite erhalten.

Und – aside: Das war ja auch mein Ansinnen, in der nur vermeintlich vom „eigentlichen Thema“, nämlich der nachträglichen „Bereinigung“ von Begriffen, die nicht „political correct“ sind, abweichenden Diskussion auf die Metaebene zu verweisen. Nämlich im Sinne eines „cui bono – wem nützt es?“ Ihre durchaus berechtigte Klage gegen die (unhistorischen) Begriffstilgungen hebt an mit einer Klage über einen schon erwarteten Rassismusvorwurf (den indes niemand Ihnen gemacht hat, zumindet nicht in dieser Debatte hier – vielleicht hätten Sie ihn gerne, um sich bestätigt zu fühlen?). Das ist ein Modus, den wir seit Walser und Grass kennen: Man provoziert, damit man hinterher beleidigt sein kann, dass die „politisch Korrekten“ einem das Wort verbieten und man dann greinen kann, dass man „sowas doch auch mal sagen dürfen muss“. Auch Grass nahm ja den Vorwurf gegen sein Gedicht schon gleich darin vorweg. Nicht minder tun Sie es, wenn sie so einleiten: Es wird so weit kommen, daß man mich einen Rassisten nennen wird, egal, ob ich es in meinem Verhalten oder meinen Handlungen gegenüber anderen Hautfarben, Kulturen, Religionen bin. Eben diese sich schon vorab als „Opfer“ der Gegensprecher gerierende Larmoyanz hat mein Argument gegen die Entschuldung und für die Geamtschuld aller Deutschen provoziert. Hätten Sie die – in der Tat geradezu putzigen – Umschreibungsversuche mit weniger larmoyantem und selbstgefälligem (wobei ich in meiner Argumentation vielleicht auch der Selbstgefälligkeit anheim falle) Pathos kritisiert, wäre ich durchaus d’accord gewesen. So aber musste ich „Dahinterstehendes“, den üblichen Entschuldungsversuch, vermuten.

ANH: Nie bestritten habe ich eine Verantwortung, im Gegenteil, ich habe sie sogar herausgehoben, aber als eine nicht wegen einer Schuld, die ich zu verantworten hätte, das habe ich in der Tat nicht, sondern als Aufgabe, die eben meine Kultur mir stellt. Ich kann sie annehmen oder auch nicht. Genau: „oder auch nicht“. Ich wollte indes genau diese Wahlfreiheit in Frage stellen angesichts der Schuld, die nicht zu tilgen ist und daher auch nicht durch so einen – oder manch anderen – Relativismus erlischt. Nocheinmal – gerade zu den Einwendungen, auch andere Nationen, Kulturen oder wie auch immer hätten Schuld auf sich geladen: Sicher richtig, gleichwohl stellt die deutsche Schuld am Holocaust eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte dar. Und die kann man auch nicht dadurch wegreden – wollen Sie ja auch gar nicht, andere, die Ihnen beipflichten, schon –, dass dies eben auch wieder ein Rekurs auf die deutsche Sonderrolle sei und damit „sehr deutsch“, wie ich ja selbst schon einlenkte. Es ist nun mal so, dass der Holocaust die schlimmste Verirrung, das schlimmste Verbrechen ist, das es bislang gegeben hat – gerade in seiner minutiös von „deutschen“ (sogar Sekundär-) Tugenden ausgeführten Art (wie bereits Adorno und Horkheimer feststellten). Es ist infam, wenn auch schon vor bald 30 Jahren im „Historikerstreit“ geäußert, die Verbrechen Stalins oder anderer Völkermörder damit zu vergleichen. Bei aller ebenfalls Grausamkeit und Menschenverachtung haben sie einfach nicht solche Dimension. Wie gesagt, das dichte ich nicht Ihrer Argumentation an, aber Sie werden bemerkt haben, dass genau solche Argumentationsstränge in der hiesigen Diskussion auftauchten. Gegen manche haben Sie opponiert, das halte ich Ihnen zugute, manchen haben Sie aber auch zugestimmt wie hier: Es ist nicht einzusehen, daß, wenn so etwas denn sein soll, es nicht auch Folge der im Namen anderer Kulturen verübten Pogrome gelten soll.

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/22 07:12:
@oegyr (ff): Vorweggenommener Vorwurf & Vergleiche.
So aber musste ich „Dahinterstehendes“, den üblichen Entschuldungsversuch, vermuten.
Nein, sondern Sie wollten vermuten; Sie hätten ja auch, in der Tat, mir zugutehalten können, daß solch ein Vorwurf anderwo geäußert wurde. Eben das taten Sie aber nicht. Vermuten müssen taten Sie gar nichts. Meine in der Tat rhetorische Überschrift bezog sich auf die insgesamt so geführte Debatte, daß, wer für den Verbleib der diskutierten Begriffe streitet, „den Rassismus fortschreiben“ wolle, i.e. selbst ein Rassist s e i. Dieser Gedanke ist falsch. Hannah Arendt, etwa, schrieb 1957 zur, wörtlich, „Negerfrage“ (zit. n. linksnet: Sie plädiert dort entschieden für die Aufhebung der rechtlich-politischen Diskriminierung, spricht sich aber gleichzeitig für das „unabdingbare gesellschaftliche Recht… (auf) Diskriminierung“ aus; denn: „Eine Massengesellschaft, in der die Unterscheidungslinien verwischt und die Gruppenunterschiede eingeebnet werden, ist eine Gefahr für die Gesellschaft an sich und weniger eine Gefahr für die Integrität des einzelnen, denn persönliche Identität speist sich aus einer Quelle, die jenseits des Bereichs der Gesellschaft entspringt.“

Was die Vergleichbarkeit angeht, lassen sich sehr wohl sämtliche Völkerverbrechen vergleichen, was nicht heißt, daß sie einander „gleichwertig“ seien – schlichtweg deshalb nicht, weil sich kein Unrecht gegen ein anderes aufrechnen läßt. Ich halte es aber für gefährlich, weil schwarzreligiös (im Sinn von Schwarzer Pädagogik), ein Unrecht gegenüber anderem für absolut zu setzen. Die im Nationalsozialismus geschehenen Verbrechen sind ungeheuerlich, aber sie machen die Verbrechen anderer Nationen und Menschen nicht weniger bedeutend. Das liegt daran, daß nicht etwa „ein Volk“ leidet, schon das ist Religion, sondern leiden tut immer nur die und der Einzelne, leiden tut das Subjekt. Und für das ist es gänzlich gleichgültig, ob sechs Millionen oder „nur“ eine Million oder nur zwanzig einzelne Menschen leiden. Leid ist, immer, allein.

Und selbstverständlich m u ß kein heute in Deutschland Geborener sich die Schuld auf die Schultern laden lassen, und weder Sie noch sonst jemand hat das Recht, es zu tun. Denn heute Geborene und auch schon vor fünfzig Jahren Geborene haben de facto keine Schuld, nicht die Spur einer Schuld; sie müssen sie also auch nicht tilgen. Ich kann nach wie vor nicht sehen, woher eine solche Schuld sich denn begründen solle: daraus, daß sie n i c h t gemordet haben, dadurch, daß es vielleicht soziale, aufopferungsbereite, freundliche, liebenswerte Menschen sind, die sich vielleicht auch für Gerechtigkeit engagieren, und zwar nicht, weil sie etwas wiedergutzumachen hätten, sondern weil sie einfach Menschlichkeit für einen hohen Wert halten? Es ist eine geradezu Ungeheuerlichkeit, neuen Menschen die Schuld für das – ja, riesige – Unrecht der Vorhergegangenen aufzubürden; nebenbei bemerkt, macht es die Menschen auch kaputt, seelisch kaputt. Ich habe, meines Herkunftsnamens wegen, mich jahrelang mit „meiner Schuld“ herumgeschlagen, lesen Sie einfach mal meine frühen Romane. Es hat mich Kraft gekostet, dieses: „Nein, ich bin nicht schuld“ und heute lehne ich es entschieden ab, jemandem, der sie de facto nicht hat, allein nur zuzumuten; zuzumuten ist Verantwortung, ja, aber die muß man annehmen wollen; eine Verpflichtung gibt es dafür jenseits einer auch in allen anderen Bereichen geltenden Ethik nicht. Wir haben als Deutsche auch keine besondere Verantwortung, sondern genau die Verantwortung, die sich von jedem anderen Bürger irgend eines Staates erwarten läßt. Beharrt man wie Sie auf dem größten aller denkbaren Verbrechen – seien Sie sicher, daß sich die Menschheit darin immer wieder, auch in Zukunft, noch überbieten wird -, dann wird das Verbrechen zum Geschichts-Telos. Das Schlimmste ist dann schon erreicht, das Negative Paradies, und die Geschichte setzt sich still.
Tut sie natürlich nicht, sondern sie geht weiter.

Aber auch psychodynamisch riskiert Ihre Haltung, daß sie, die neuen, nächsten Menschen, einfach, weil sie gesundbleiben möchten, wozu sie auch ein Recht haben, alles abwehren, was auch nur entfernt mit der Schuld der Vorderen zu tun hat. So daß Ihre Haltung schließlich genau das Vergessen bewirkt, gegen das Sie zu streiten vorgeben. Aus der Haltung mancher Jugendlichen einer der meinen nachgefolgten Generation weiß ich, wie angeödet sie von der noch- und noch- und nochmaligen Wiederholung des Holocaust-Themas in der Schule waren. Sie wollten schlichtweg nichts mehr wissen davon. Und das ist nachvollziehbar. Denn tatsächlich läßt sich ein solches Verbrechen nicht „bewältigen“, von keines Menschen Seele.

Rechtgläubigkeit und Verbrechen. Zu Schuldfrage und NieSühnbarkeit. Im Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. Januar 2013.
7.37 Uhr:
Nachdem gestern der Bildblog auf meinen Text hinwies, schossen die Zugriffe innert dreier Stunden um weitere Eintausend hinauf; schon faszinierend. […] Ich spüre, daß hier ein Tabuthema wirkt, eine moralische Idee von Endgültigkeit, kurz: ein Götze oder Gott, je nach Perspektive. Aufklärung soll nicht sein, weil, so die Position, das höchstmögliche Böse erreicht sei; und so, als höchstmögliches Böses, soll es auch – unkritisch – betrachtet und, kann man sagen, negativ angebetet werden. Es ist dies, in der Tat, die Funktionsdynamik dogmatischer Religionen. Exakt so hat das Erbschuld-Ideologem gewirkt, das zudem einen Teil Schuld an dem Genozid trug: insofern die christlichen Kirchen die Meinung verbreiteten, „die“ Juden trügen die Schuld am Tod des Nazareners und dieses sei unsühnbar. Damit, genau damit, begann der Judenhaß als eine finstere Tradition quer durch das Mittelalter bis in die Neuzeit und in die Moderne. Es führte direkt nach Auschwitz.
Tabuisierung ist also das Thema, – eine, die nicht zulassen will, daß man genau anschaut, weil das Lästerung sei; die aber das Bild a l s Bild zugleich erhalten will: vor ihm seien wir für alle Zeiten schuldig, wobei dieses „wir“ nicht bestimmt wird, weil es auch gar nicht bestimmbar ist, jedenfalls nicht anders als durch eine Erbschaft, völkisch nämlich. Als Gäbe es ein Böses Gen, das sich in einem Volk von Individuum zu Individuum vererbt und in allen Individuen dieses Volkes.
Die dogmatischen Vertreter der moralischen Rechtgläubigkeit, auf deren Seite sich Ögyr positioniert hat, merken gar nicht, wie perfide sich in ihnen der Irrtum von Reinheit fortsetzt, sei es einer der Ideen, sei er einer von „Rassen“; in seiner Argumentationslinie wird das Ariertum perpetuiert; denn schuldig in seinem Sinn kann ja nur sein, wer „dazugehört“, und sei es als Enkelin und Enkel der Großväter und -mütter, die das Unrecht zu verantworten haben, das ich, weil es von solchen Dimensionen ist, meinerseits-religiös ein Unheil nennen will.
Interessant aber auch, wie geradezu sofort das eigentliche Thema – nämlich nachträgliche Verfälschung von Büchern zum Zwecke moralischer Correctness – auf das derart große und de facto nicht bewältigbare Thema des von Deutschen verübten Völkermords verschoben wird, und wie schnell es dann wieder um die Vergleichbarkeit oder Nichtvergleichbarkeit von Geschehen des Unheils geht. Psychoanalyisch vermute ich, daß der sich seiner Schuld „bewußte“ sich rein aus Notwehr mit dem Aggressor identifiziert hat, denn überhaupt kein nach 1945 Geborener trägt irgend eine Schuld an den Geschehen davor. Eben sie anzunehmen, wurde aber gefordert, und weil diese Art Schuld von keinem gesunden Menschen getragen werden kann, ohne daß er selbst krank wird, identifiziert er sich und besetzt die Schuld libidinös. Deshalb die oft radikale Verteidigung der Selbstschuld: Man möchte sein Liebesobjekt nicht verlieren. Teilt man es einvernehmlich mit anderen, wie Jesus etwa, ist man sogar in Gemeinden geborgen. Bestreitet jemand die Schuld – wohlgemerkt: nicht die Schuld der Deutschen vorher, die sich hätten auflehnen müssen, wobei auch das sehr theoretisch ist, weil keiner von uns weiß, wie wir selbst, anders sozialisiert, damals gewesen wären; auch Angst, und zwar berechtigte, hat eine große Rolle gespielt -, – bestreitet also jemand seine eigene Schuld an den Vorgängen der Vergangenheit, dann gefährdet das die Wärme der Gemeinde aller Schuldigen, in der man sich zuhause fühlt und die man „Deutschland“ zu nennen übereinkam. Die einen außerdem entlastet: man habe ja nicht mehr das Recht, irgendwo anders moralisch mitzusprechen, und eine weitere Ungeheuerlichkeit wie die in folgende und weiterfolgende Generationen hineinreichende Atomvernichtung von Hirsohima und Nagasaki wird gegenüber dem von „uns“ erreichten höchstmöglichen Bösen zu Marginalien der Weltgeschichte. Es sind diejenigen, die die Unvergleichbarkeit des Unheils vertreten – einen Verdinglichungsprozeß -, welche damit zugleich die, zum Beispiel, ethnischen Säuberungen in Schwarzafrika mit all ihren entsetzlichen Auswüchsen zu etwas minder Furchtbarem machen; jeder abgehackte Kinderarm wird lächerlich gegenüber dem „wirklichen“ und absoluten Bösen von Auschwitz. Es ist diese Dynamik, gegen die ich aufstehe, und viele andere stehen dagegen mit mir auf; ich täte es aber auch alleine.
Nicht Bewältigung der Vergangenheit, sondern ihre Nichtbewältigung, ihre Nichtbewältigungbarkeit ist hier das Thema. Die Schuld ist zum Fetisch geworden, seine Befragung tabu. Daher die ganzen Aufgeregtheiten etwa im Fall Botho Strauss‘, aber auch Martin Walsers und – ja, auch Peter Handkes. […]

Jörg Meyer / ögyr meinte am 2013/01/23 04:02:
@Die dogmatischen Vertreter der moralischen Rechtgläubigkeit
Lassen Sie mich Ihr „Jüngstesgerichtsvollzieher“ sein wie hier.

albannikolaiherbst antwortete am 2013/01/23 09:17:
„Söhne und Töchter des Völkermords sind wir doch“.
Um diese Zeile des von Ihnen verlinkten Gedichtes zu nehmen:
Weder bin ich Sohn noch Tochter des Völkermords, sondern Sohn einer Krankenschwester und eines Vertreters für damals, glaube ich, Heizkörper. Der Völkermord ist keine Person, die Menschen zeugen kann, er ist überhaupt keine Person, sondern ein Geschehen. Wenn, dann bin ich allenfalls Enkel einer Generation, die am Völkermord mitgewirkt, aber auch sich gegen ihn verwahrt hat. Meine Großmutter saß als Widerstandskämpferin im Lager, mein um mehrere Ecken mit mir verwandter Großonkel war tätig an dem Grauen beteiligt, meine andere Großmutter ballte die Fäuste in den Taschen, wie Kästner tat, und schwieg. Wessen Schuld trage ich also nun?
Töchter und Söhne – im weiten, mythischen Sinn von Nachkommen der Ahnen – des Völkermords sind wir beinahe überall auf der Welt; die Frage ist immer, wann hat der Völkermord, der gemeint ist, denn stattgefunden. Ihre Antwort ist für eine politische Arbeit wenig förderlich, im Gegenteil, [sie] wird behindert, und die zeitliche Ferne oder Nähe ist ihrerseits, im übrigen, ein Vergleich, den Sie für einen Genozid nachvollziehbarerweise ablehnen.

Nein, ich bin kein Sohn des Völkermords, und nach allen mir bekannten Gesetzen und Regularien des Menschenrechts wäre eine solche Anklage nicht einmal verhandlungsfähig, d.h. sie würde aus rechtsstaatlichen Gründen gar nicht zugelassen werden.

ögyr: (wohl aber POETISCH ist sie verhandelbar, weil Poesie über das menschenrechtlich – vor Gericht – Verhandelbare hinausgehen kann – und muss)

Das ist gut so, im Interesse aller Kinder, die neu auf die Welt kommen und denen Sie aber die Chance von vornherein nehmen, freie und verantwortungsbewußte, mitleidende und sozial engagierte Personen zu werden. Das, Ögyr, ist ein furchtbares Unrecht, das Sie mit Ihrer Forderung begehen. Es ist selbst ein, mit einem Wort, Verbrechen. Eines an der Seele junger, gerade erst werdender Menschen.

[…] Sie merken gar nicht, Ögyr, wie furchtbar Ihre Argumentation ist und daß sie letztlich den Rassegedanken, verbunden mit Reinheit – hier nämlich von Schuld – der Nationalsozialisten fortsetzt. So gesehen, haben Sie das Erbe tatsächlich angetreten. Welch eine perfide Dynamik, deren Opfer Sie in Ihrem Empfinden als Schuldbeladener nun werden, Sie schaffen sich die Schuld, und zwar eine, die in der Tat von Ihnen persönlich gesühnt werden muß.

ögyr: So will ich denn durchaus Sühne tun – persönlich tue ich sie längst in meinem „Werk“, man könnte es auch „Geschreibsel“ nennen (und würde damit meinem vermutet psychopathologischen Schuldersuchen Recht tun – und das wäre meinerseits wie dererseits zwar Pose, aber eine erhellende in der daraus destillierten Poesie). So bin denn also ich – wenn auch ungewollt (wie ANH für sich anfangs rhetorisch bekannte) – der Fortsetzer des „Rassegedankens“. Auch dafür nehme ich die Schuld – reflexartig – auf mich, ebenso reflexartig wie ANH sie ablehnt – und austeilt an mich die Schuld, die darin bestehe, die Schuld so apodiktisch einzufordern, wie ich es tue. Beider (ganz unterschiedliche) Biografie ist dafür der (Hinter-) Grund, bei ANH die lange Nachschuld, gegen die er sich emanzipieren musste (und aus diesem Müssen heraus, es bewältigend, vermutlich so scharf reagiert wie ich scharf reagierte in meinem Ansinnen, sie, die Schuld, zu perpetuieren), bei mir die Mitschuld, die ich abstrakt zwar, aber in meiner Poesie immer wieder auch erlebt EMPFINDE, poetisch/poetologisch strenger noch als politisch, weil oft MIT DEM TOD verhandelnd. Ich fand und finde mich – seltsam eingedenk und verbunden – in Worten wieder, wie sie Heiner Müller 1989 in einem Interview äußerte (nachzuhören bei Minute 14.30 hier): „Wenn ich in Köln durch die Fußgängerzone gehe – oder durch eine beliebige Fußgängerzone, wo eingekauft wird -, ärgert mich die Unschuld dieser Bevölkerung. Die sind alle unschuldig. Und ich mag keine unschuldigen Menschen. Das ist für mich fast mit Ekel verbunden, diese Unschuld. Die sind an nichts schuld, an nichts schuld gewesen, und sind auch jetzt an nichts schuld, und sind subjektiv wirklich unschuldig. Das bin ich nicht!“ Und ergänzt in „Selbstkritik“: „… das habe ich geschrieben, im Besitz der Wahrheit, 60 Jahre vor meinem mutmaßlichen Tod. Welches Grab schützt mich vor meiner Jugend?“ Und welches vor dem meiner (Ur-) (Groß-) Väter? „Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut“, rief Brecht die „Nachgeborenen“ an. Wir gedenken unser nicht „mit Nachsicht“, weil wir das nicht dürfen, es sei denn, wir führten „die Freundlichkeit“ „einverstanden“ mit der Schuld – und aus dieser heraus – ins Feld. Eben dies gilt es zu sühnen gegenüber den nachgeborenen immer noch und vor allem wieder ((in Afghanistan, in …, neuerdings in Mali …)) Tätern.

„Erbschuld“s- und Arbeitsjournal. Mittwoch, der 23. Januar 2013.
9.35 Uhr:
Es gibt keine, absolut keine Rechtfertigung der Erbschuld; ihr Gedanke selbst, als tätige Forderung an Menschen, ist ein Verbrechen und ist das durch alle Jahrhunderte schon gewesen – einmal abgesehen davon, daß es, im Christentum, die in ihrer, für die Antike betrachtet, historischen Dimension ungeheure Leistung des Nazareners war, sie durch seinen eigenen Tod ein- für allemal aufzuheben. Mit den Völkermordverbrechen des Dritten Reiches kehrt sie, die Erbschuld, nun wieder: auf diese Weise läßt sich die Dynamik mythisch verstehen. Die Vernichtungslager des Dritten Reiches wären der Zweite Sündenfall, der gegen die Entsühnung durch den Nazarener die Erbschuld neu etabliert. Das ist schlüssig und erklärt die Schärfe des Tabus (Auschwitz als negatives Telos der Geschichte, nämlich – christlich gesprochen – Hölle; man kann da durchaus an Bosch und Dante denken), …

ögyr: Dass solches, meines, „Erbschuld“-Gedenken christliche, wenn nicht (ins womöglich Gegenteil sich verkehrende) jüdisch messianische Denkgestalt ist, der Argumentation will ich durchaus folgen. Dass in der Annahme (im doppelten Wortsinne) der umfassenden Schuld auch der Wunsch nach „(Selbst-) Erlösung“ widerhallt, ebenso. Ophelia in Heiner Müllers „Hamletmaschine“ (zu Ekel, Ethik und Eros): „Im Namen der Opfer: Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandele die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. […] Es lebe der Hass, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!“ Und Müller im Interview 1994 (Minute 23 in obig zitiertem Porträt bei Youtube): „Was spricht eigentlich gegen ein schlechtes Gewissen als ein [möglicher] Schreibimpuls?“ Solchen habe ich immer empfunden, wenn ich schrieb. Allein schon das schlechte Gewissen, mit meinem ständig jene zu behelligen, die es nicht haben müssen oder wollen. Insofern … „gedenket unser mit Nachsicht“. Und „aufgetaucht aus der Flut“ mögen selbst solche wie ANH (selbsternannt) sein, die 9 Jahre vor mir geboren sind – ich bin es nicht!

… ist aber „rein“ auf die Interdependenzen zweier Bruderreligionen bezogen und damit, bezieht man es auf die Völkergemeinschaften insgesamt, scharf religionskolonialistisch. Für etwa China, Vietnam oder Japan sind Hitlerdeutschland und die Folgen ohne empfundene moralische Relevanz, weil dort je die eigenen Völkerverbrechen in der je eigenen Verarbeitung stehen und das, was hier geschah, kein Maßstab für dort sein kann. Wir sind weltpolitisch ja noch nicht einmal so weit, daß die Menschenrechte-an-sich von allen Völkern anerkannt sind. Wir wollen das zwar durchsetzen, weil wir an sie glauben, aber es i s t für andere eben ein Glaube, den sie nicht unbedingt teilen. Der Erbschuldgedanke ist denkbar ungeeignet, für unseren Glauben zu werben, auch denn, wenn wir ihn eine Überzeugung nennen.

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