Do, 29.7.10 (Fr, 30.7.10, 3:12): Schappoklack

Morgens auf dem Balkon, rauchend, wolkenhimmelschauend plötzlich ins narbengrüne Fratzenangesicht von General Zweifel: Bin 46, kein junger Autor mehr, alle Revolutionen nur versäumt oder allenfalls nachgeholt, Pseudo-Bohèmian, Lohnarbeitsschatten meiner selbst. Der große, wichtige Romanentwurf lässt auf sich warten, hat seit Jahren keine Sprechstunde. Vielleicht muss der Anspruch „Künstler“ endgültig aufgegeben werden zugunsten der Realitätseinsicht „Es ist nicht, wie es bleibt“ (Heiner Müller).

Erst später von jenem „großen schwarzen Vogel“ zu Lilly gesprochen. Aus dem Bedürfnis heraus, ihr nicht noch mehr von mir zu verheimlichen, als im di.gi.arium 00 wie 10 ohnehin schon steht. Auf dem Fußweg zu Ikea. Lilly ist ja nicht minder von existenziellen Fragen umgetrieben, denen, unseren beiden, wir mit Einrichtungsfragen beizukommen versuchen. Im schwedischen Möbelhaus dann die ebenso plötzliche Beruhigung, dass sich für alle wesentlichen Fragen des Da(geblieben)seins Gegenstände der Befriedigung (und Bedingung) finden lassen, zumal wenn wir sie zusammen auswählen. Eigentlich Reisende basteln an der Häuslichkeit. Tröstlich ihre Unentschlossenheit, die eigentlichsinnig eine Entschlossenheit zum Wagnis Zweifel ist. Sie schaut Stoffmeterware an, ist begeistert von Form und Farbe, weiß nur nicht, was man daraus schneidern könnte. Nähen kann sie so wenig wie ich, nur sich nähern. Kuss zwischen Vorhängen. Momente, in denen ich ihr näher als nah bin, weil wir uns schnittvermengen, uns also überlappen – am Schneidepult der Ikea-Stoff-Meterware.

Unterwegs denkt sie an den Hut von gestern. Ihr Fetischfaible für Hüte, die Bedeckung und den Schmuck des denkenden, also zweifelnden Kopfes. Betrachte ihre Stirn, wenn sie spricht, wie sich die manchmal kraus zieht, kritisch mit lächelnd hochgezogenen Augenbrauen. Ihre bebende Nase. Snapshots der unbedingten Verliebtheit. Und wie sie sich vom Klang der Worte faszinieren lässt: „Chapeau claque“ – ich solle einfach mal nur auf den Klang lauschen, „Schappoklack“, und mir dann vorstellen, dass so ein Kind heißen könnte. Merke im Moment der Vor.Stellung, dass das nur scheinbar „strange“ ist, weil es zärtlich klingt.

Die Bewegung des Ausklappens, wenn sich unsere Hände beim Gehen berühren. Und es hat klack gemacht …

Rückkehrend in unsere Zimmer mit der Aussicht auf uns, fällt ihr auf, wie dekorativ der rote Hut mit schwarzer Seidenspitze wirkt, den ich auf die Lehne des verschossenen Sesselpolsters gehängt hatte, damit er nicht zerdrückt werde.

Abends schauen wir im TV eine Doku über Marlene Dietrich. Lillys Entschluss: „Auja, lass uns Filme mit ihr schauen!“. Lade bei UseNext „Morocco“ (J. v. Sternberg, 1930) herunter. Schauen den Anfang und entdecken Marlene, wie sie den Chapeau ausklackt.

Paar Filmminuten weiter Marlenes Augenaufschlag: Nähe der Distanz, Nähe als Versprechen, als Klack mit abgesetztem Chapeau.

Wie manchmal Lillys Augen.

Jetzt, nachts, frühmorgens sitzen wir an unseren Künsten. Sie an handschriftlichen Briefen, ich hier einen Schiebetürklack weiter an diesem hier. Sie hört „I Put A Spell On You“ im Loop und macht genau das mit mir. Der große schwarze Vogel von heute Morgen sitzt die Federn schreibschwingend, beflügelt auf ihrem Hut von gestern. Gleich, nach dieser Federflatter hier (vielleicht): Kuss, Umarmung, Schappoklack.

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