11-3-95, 16:25 (skizzenbuch)

Rückfahrt rückwärts. sk hat die Sitzung hinter sich gebracht. Sie lohnte nicht, lehrte aber. Jetzt versetzen ihn ein milder Alkoholrausch und das Blicken aus dem Fenster in den Frühlingsspätnachmittag in eine träumerische Stimmung. Noch einen Schluck Berliner Pilsener. Es lebe der mildtätige Rausch. Abends wird er noch THC draufsetzen, niedersinken – und alles ist gut. Die Grenze war nicht mehr sichtbar gewesen. Verlust. Die Diskussion bei der Sitzung drehte sich imgrunde darum, wie man zukünftiges Scheitern vermeiden wollte. Die Gespräche mit th am Vorabend waren wenn nicht warm, so doch austauschend und beiderseits ehrlich interessiert gewesen. Vor der Abreise hatte sich sk noch ins „Sexy Eyeland“ begeben und innerhalb von 2 Min. abgespritzt. Das hatte ihn 5 DM gekostet. Eine Asiatin („Lucky“) hatte sich zwischen die Beine gegriffen und ihn angesehen (…). Jetzt aber im Zug (Zug um Zug) und zurück, satt und leicht alkoholisiert (ein Wodka-Flachmann (…) neben den Bierzylindern). In Nauen wird für das „Volksblatt“ geworben. sk wird nachhause kommen, (…) e. Vielleicht wird er e eine Haschzigarette andrehen können:

„sk baute sich vor ihr auf, öffnete das Silberetui, entnahm die beiden stattlichen Brocken, jeden zwischen Daumen und Zeigefinger je einer Hand, prozessionsartig, und fragte gewichtig: „Grünen oder schwarzen?“ e war etwas bleich, entschied sich dann aber für den schwarzen, nachdem sk über die Unterschiede im Rauschverhalten doziert hatte. Der schwarze schlage fester zu, gleite dann aber milder aus. Das hatte er von (…) seiner Connection aufgeschnappt. Er drehte also zwei Zigaretten mit schwarz, gab e Feuer, dann sich und ließ sich sanft – nach 3, 4 Zügen – hineinfallen. Er leistete kaum Widerstand gegen das, was sich flüssigkeitsartig schwer in seinen Beinen vom Steiß aus ausbreitete (…). Auch e schien bald gelöst. Sie saß im Sessel mit dem immer größer werdenden Loch im Polster und zog die Beine an. (…) Sie schwiegen, jede mit dem aufkeimenden Rausch in sich beschäftigt. Dann gingen sie wieder hinauf in den Wintergarten.“

Gut. Einfaches gut! Wir passieren Friesack, es ist 16:55. Märkische Monokulturen. Ein Flußlauf, eher ein breiterer Bach.

Die Mädchen mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt. Eine Geste der Bequemlichkeit, also des Vertrautseins. sk hat den schäfchenfarbenen Pullover ausgezogen. Ihm war warm. Jetzt im anthrazitfarbenen, ungebügelten Hemd. Zeit streicht. 16:59

19:05 – inzwischen HH Hbf.

„Als sk ankam, (…) die Gäste bereits oben im Wintergarten, sah er erschreckend müde aus. Die Augen groß hinter der Brille und flackernd, der Lidschlag deutlich verlangsamt. Er hatte im Zug unruhig geschlafen. Sein Haar war verlegen und hing strähnig. Die Hände zitterten (…). Da man wußte, daß sk in Berlin gewesen und warum, weil man also eine gewisse Anstrengung vermuten konnte, schenkte man seinem etwas verstörten Zustand die lediglich gebührliche Aufmerksamkeit. Was war das erste Wort, das er mit e oder sie mit ihm sprach? Er sah sie offen an und fing sich, irgendeine Höflichkeit. e schien jedenfalls seine Erschöpfung zu bemerken, und an den ganz leise zitternden Händen mit den zerkauten Nägeln sah sie die Wirkung des Alkohols ebenso wie an seinem unsteten Blick, der ziellos umherirrte (…). Sie war einigermaßen erstaunt, als er sie später, offenbar wieder einigermaßen nüchtern fragte, ob sie mit ihm herunterkommen wolle, um etwas zu rauchen. Aber sie willigte ein. Sie wollte. Ja, etwas rauchen, das würde jetzt guttun.“

Draußen schritten die Reisenden nervös umher. Drei Chinesinnen oder Vietnamesinnen hatte sk vorhin, aus dem unruhigen Schlaf erwacht und auf dem Weg zum Klo, wo das Bier wieder herausgelaufen war, zwei Sitzreihen vor sich bemerkt. Und der Schlaf malte schön auf ihren Gesichten. Jetzt, wohl weil der Zug stand, wachten sie auf und plapperten. Dann standen sie jäh auf und wanderten über den Bahnsteig davon. Sie waren alle drei ähnlich gekleidet: helle Jacken und Jeans unter den schwarzen Haaren. Eine (…) trug seltsam alte Turnschuhe, blau mit weißen Spitzen, nach sozialistischer Bedarfsdeckung aussehend. (…)

Auf der Alster lag am Ufer vertäut ein Schiff mit bunten Lichtgirlanden und hellen Fenstern. Es sah freundlich aus.

Im ND stand eine Anzeige (vom Fr): „Viel zu früh hat der Tod unseren langjährigen Kampfgefährten, Genossen Walter Kleibert jäh aus seinem engagierten Leben usw. gerissen. Sein Wirken für usw. werden wir in ehrendem Andenken halten. Partei des demokratischen Sozialismus, Kreisvorstand Spree-Neiße, Gebietsvorstand Forst (Lausitz)“. sk rührte das fast bis zu Tränen. Dieses „genosse“. Und in ihm stieg ein nostalgisches Gefühl von Arbeiterpartei, Klassenkampf, Straße, Kuhle Wampe etc. auf. Unklar blieb, ob Gen. Walter Kleibert Arbeiter gewesen war. Dennoch rührte sk sein Ableben. Rein theoretisch hatte er einen kampferprobten Genossen verloren, einen der anonymen, die für etwas ähnliches geackert hatten wie er. Dabei schienen ihm Berlin, das Abgeordnetenhaus, wo sie getagt hatten, der ganz und gar, bis in die Kleidung hinein ergraute Gen. Wolfgang Gehrcke jetzt seltsam fern, schon wieder gänzlich vorbei. (…) Draußen war es komplett dunkel.

19:46

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