21-12-95, 1:28

im „storchnest“ saß ska im nest der genossen. diskurse out of law & order, hin & wi(e)der, ohne perspektive, außer der, keine zu haben. ska saß und sprach. die genossen saßen, tranken und sprachen in unseren zungen. ska trank. am hintertisch hatten sich chormitglieder versammelt, noch in den noten, die nach probenlangem üben nicht aus dem hirn gehen. sie sangen murmelnd leise aber mit reinem ton „wie soll ich dich entpfahen“ aus dem w.o. ska war plötzlich berührt wie von einem schlag. „und wie begegn’ ich dir? o, aller welt verlangen, o, meiner seele zier“. darüber, genau darüber hatten sie gesprochen, in ihrer sprache, die aus analytischen argumenten bestand, aus für&wider, abwägen, taktik, strategie. das glücksverlangen des menschen sei nicht abzutöten, sagt brecht und zieht daraus die radikale hoffnung. sie sprachen von revolution, jene von glauben (ohne zu wissen, was das sei, denn sie sangen ja und sprachen nicht).

ska hatte damals in einer großen kirche gestanden, mehrmals. das licht war durch die fenster getreten. mit dem notenbuch unter dem arm war er in der probenpause mit hängendem kopf und krumm durch die bänkereihen gestapft, hoffend irgendeine angebetete möge ihn so sehen. ska hatte gedacht, daß er allein in diesem moment, wo alle schwatzten, die eben gewesene musik wirklich verstehe. denn das licht trat durch die fenster. ska hatte das alles auf sich bezogen in seiner naivität, seiner totalen offenheit hin zu allem, was als höheres ihm begegnete (glaube oder idee).

jetzt aber sangen sie leise dieses lied. es ist die melodie vom choral „o, haupt voll blut und wunden“, worin sich der tod bereits in der geburt ankündigt. ska hielt etwas von bestimmung und -rufung, welches beides er für sich empfand. er hatte am tisch der genossen davon gesprochen, daß man sich derzeit in einer situation der flaschenpost befinde. es könne derzeit nicht um die revolution an sich gehen, sondern allein darum, die idee davon am tropf zu halten. derweil fragte sich der choral, wie dies zu empfangen sei, wie dem zu begegnen, wissend, daß daraus ein wundes haupt folgen werde. erst dieses haupt, gekrönt von den dornen der arbeit. imgrunde leckten sie bereits ihre wunden, die sie sich eingefangen hatten.

ska sah auch in der politischen arbeit immer die transzendenz der arbeit selbst. er sah sie letztlich allein als gleichnis, während die genossen sie für bare münze nahmen. ska wußte, daß die politik ihm nur ein spiel der suche war. allein die tatsache, daß er zwischen dem, was sie da sprachen, und dem, was jene murmelnd sangen (beides zitate!), eine verbindung sah. das glücksversprechen war beiden gemein, die radikalität der hoffnung, die sich immer gegen die realität lehnt (also dagegen auflehnt, sich aber auch daran anlehnt). im eingangschor heißt es: „dienet dem höchsten mit herrlichen chören!“ von bach wohl als metapher der eigenen kunst gedacht, dienten auch ska und die genossen dem höchsten (dem ideal) mit chören der argumente gegen die herrschenden, die bei diesem gespräch nicht zuhörten, und wenn, sich darum nicht bekümmerten.

ska beschloß, das näher zu fassen: in einem zu schreibenden artikel werde es um die utopische protestation gehen, die sich in ihrem begehren (dem glücksverlangen) nicht minder äußerte als in der kunstmusik, die in dieser viertelstunde beide, an zwei kaum voneinander entfernten tischen, die welten voneinander trennten, zugegen gewesen waren.

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