23-12-95, 19:09

der sommer war anfallslos gewesen, ebenso das jahr. was sich ereignet hatte, schwieg jetzt von weit. ska hatte dagegen gesungen und die stimme aufs papier gekreidet. im anfallslosen sommer, der nach gras gerochen hatte, war er mit sack & packen von papier unbekannt verzogen. da er selbst der absender war, ging seine post an ihn selbst zurück, und so blieb’s halbwegs beieinander. ska hielt sich inmitten standhaft wie ’ne dauerwurst.

sehnsucht hieß die notdürftige notdurft, deren er sich strophenlang erfrecht hatte. das fortwährend wiederholte achttaktige thema indes hieß – wiedereinmal – sehnsucht. die in verschiedenen erdenklichen ausprägungen. sei es, daß er daran litt, daß er nicht genau zu nennen vermochte, woran er litt, sei es nicht minder dito das thema der „trauer der arbeit, noch zu verrichten“. so kreiste er um die sich wie felsen fest gebärdenden zentren ausgedachter verrückungen, meißelte immer wieder daran herum.

die entdeckung war gewesen, den text rauschen zu lassen. ein großteil von den lilien war so entstanden. ska befand sich dabei nicht, wie er es gern gesehen hätte, als eine art häftling (ein art-häftling) in ’ner zelle mit gittern im ausblick, sondern die metapher war eher ein gewächshaus: darin gärtnerte er mit der schürze vorm bauch, und eine haupttätigkeit neben dem gießen bereits verholzter, alter pflanzen war das fensterputzen gewesen, den nebelrauch, den die pflanzen ausdünsteten und der sich an den scheiben niederschlug, fortzuwischen, damit von außen hineingesehen werden könne. die pflanzen hegend brach ska gelegentlich eine, um sie zu verzehren.

die verheißungen hatten sich nicht erfüllt, stattdessen verkühlungen, fröstelndes denken, das zittern auf der kloschüssel nach zu heftigem dope. die konzentration auf den rausch und seine ergebnisse (hermetische gedichte von einer bleichen, matten schönheit des mittelmaßes). eselhaft war er dem hinterhergetrottet.

die arbeit tags hatte sich zu einer monströsen maschinerie entwickelt. fettleibig und amöbenhaft floß sie durch den tag, wollte nicht enden und war auch nie beendet. to-do-lists hatte er in der tasche des tagelang gleichen hemdes mit sich getragen und ein bild von silvester in der börse, auf das er allerdings nur selten sah. vielmehr hatte es eine ebenso beruhigende wirkung wie die zigaretten, die er dazu rauchte, zt hastig saugend wie ein kind an ’ner kargen brust. abends entstieg er den walkaldaunen der arbeit, um in den gedärmen eines karpfens platz zu nehmen (schreiben), an deren wänden ein zettel mit der aufschrift „mein arbeitsplatz, kampfplatz für den frieden“ hing nebst dem goetz-zitat vom dichten dichter, dem er im magen des karpfens nacheiferte.

19:38

der kretin, den er aus sich machte, hieß bierbauch und war ein gutmütiger und verbindlicher geselle mit ’ner platzwunde auf der stirn, die – monstermäßig – nicht verheilte, gleichwohl auch nicht andauernd blutete, denn sie war mit schründen von schorf überzogen. das beißwerkzeug dieses freaks bestand – natürlich – aus bleiminen, und die schleimhäute sonderten tinte ab (kußmal, kußmaul &c.). die texte waren feiste lilane knutschflecke auf dem weißen hals des papiers, in der armbeuge der tastatur oder zwischen den schenkeln des notizbuchs. die überhöhung des losers, philosophem (polyphem in „anna läbt anna!“) des planmäßigen scheiterns.

das projekt erinnerung (maßgabe und voraussetzung des schriebs) war so gegenwärtig in den text geschlichen, daß es manchmal peinlich war, die gebete erneut zu lesen ((obwohl natürlich nichts erhebender ist, als eigene texte zu lesen)). dennoch hielt sich ska an den irgendwann vor drei jahren mal gefaßten vorsatz, erbarmungslos zu recorden – und das fehlende erbarmen dabei galt meistens eher ihm selbst als den figurinen des textes.

19:49

etwa das mitloggen der uhrzeit. wozu eigentlich? war doch das meiste eh’ entweder ausgedacht oder doch zumindest so weit von der dazu anregenden wirklichkeit entfernt, daß er sich authentizitätshinweise dieser art hätte sparen können. dennoch war auch das pose, eine aus dem konglomerat, die leute einnehmen, die vor dem tastenwald sitzen und darauf herumklicken, bis wieder ’ne seite voll ist.

besonders nervig, hatte ska bei der lektüre des 95er diariums bis hier gemerkt, war die durchweg eingenommene haltung des mitleid heischenden zwirbeldrüsentextes. er ging nicht mit ’ner axt im walde (die bekanntlich den zimmermann aus der stadt davids nicht gefällt hatte) herum, sondern pfiff darin wie das die schwärze fürchtende kind. der impetus des „ja, so ist es!“-geschreis war fast jeder zeile anzumerken. in der massierung etwa zweistündigen lesens darin hatte dieser gestus eine derartig tötende wirkung, daß es der reine graus war. man würde sich 96 darauf versteifen müssen, daß dies allein das auffanggefäß für ’n dauerstrullen eines riesigen ochsen war, wo man hinterher mit ’nem sieb den nierengrieß herauszufiltern hatte. mehr nicht. kein exzess hin zum voll tollen elaborat, noch nicht mal ’ne skizze, sondern eben – allerdings heißer – dampfender urin. der vergleich des schreibens mit ausscheideaktionen des leibs war immerhin interessant, denn er beschrieb die sache ganz brauchbar.

was einfach fehlte, nicht nur im text vor und von dem text, waren streit, dreinschlagen und maulaufreißen. stattdessen ständig dieses wissende wispern und rauchverhüstelte raunen. andererseits war dies vielleicht der ort dafür, denn die abmachungen am anfang des textes waren einigermaßen durchgängig eingehalten worden. die verbannung des blöden ichs aus dem record war schon mal ’n echter fortschritt, weil’s das nämlich gar nicht gab, vielmehr die maschinenmetaphern viel besser paßten, obwohl auch die selbststilisierungen waren. ((man sehe sich den scheiß an, den ein hier nüchternes gehirn fabriziert.))

20:03

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1 Antwort zu 23-12-95, 19:09

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