Fr, 21.5.10 (So, 23.5.10, 0:58): Dialektik der Dämmerung

Weiter fasziniert von den leeren Bildern der Dämmerung, da wo sich die Pupillen maximal öffnen, wo das Farbsehen aufhört, Schichtwechsel auf der Netzhaut von den Zapfen zu den Stäbchen. Der Kohlrausch-Knick beim Übergang vom photopischen zum skotopischen Sehen. Soweit die Physiologie des Gesichtssinns – interessanter noch die damit verbundenen Gefühle, die auch so etwas wie einen Knick aufweisen. Oder eine Art Niemandsland zwischen Tag- und Nachtempfinden.

Das Phänomen Dämmerung als Durchschreiten eines Grenzstreifens. Versuch, diesen diskontinuierlichen Übergang festzuhalten. Fotografisch schwierig, weil die Fotos nie die Farbstimmung wiedergeben. Beispiel hier: Blick aus dem Fenster am Laubengang in westliche Richtung beim Warten auf den Fahrstuhl:

Aufgenommen beim Aufbruch in die Schaubude, um dort “The Magic Touch” zu besprechen, Reggae-Rocksteady-Combo aus Berlin/Leipzig.

— snip! —

Reggae auf Rock’n’Rollisch

The Magic Touch übersetzten in der Schaubude den Rock’n’Roll in Reggae.

Kiel. Die Herren aus Leipzig und Berlin tragen wie einst die Pilzköpfe geschniegelte Anzüge. Reggae im Nadelstreif kommt als Rock’n’Roll und orgel-bluesiger Rockabilly auf die Bühne der Schaubude. Und schon nach drei Songs ist das Publikum ein ungestüm tanzendes auf dem Dancefloor.

Rocksteady heißt der Vorläufer des Reggae, der nordamerikanische Altwelt-Funke, der Ende der 60er Jahre dem Reggae und dem Calypso-Feeling den letzten, entscheidenden Kick gab. So retro klingen The Magic Touch, wenn sie in der Schaubude einen frisch blutenden Finger auf eine alte Wunde legen. Selten hört man die Rock’n’Roll-Spuren so altertümlich deutlich im Reggae und Ska. Die magischen Berührer machen das schon im Opener klar: “Hang Em High” nimmt akkordischen Bezug auf das “House Of The Rising Sun” und damit auf einen Klassiker des R’n’B.

Wild fliegen Magic Jo’s Finger über die Orgeltastaturen. Wenn Magic Alex an Lead-Vocals und -Gitarre sich ins transatlantisch-partnerschaftliche Zeug legt, ist der Keyboarder im gepflegten Hintergrund, es sei denn er lässt sich zwischenzeitlich zu irrwitzigen Soli hinreißen. In den rein instrumentalen Stücken ist er noch angenehmer ausufernd. Man mag kaum glauben, dass gebürtige Mitteleuropäer den Sound des Zuckerrohrs und seiner Ausgebeuteten so perfekt drauf haben. Immer wieder verwunderlich, wie sie die Karibik auf den europäischen Rock-Punkt bringen.

Beschwingt bis beschwippst agiert nicht nur Jo’s Orgel. Auch Magic Sven bietet ein Schlagwerk, das haarscharf neben dem Offbeat und damit wieder “four to the floor” liegt. Ferner ist er der Mann für Back- und erdig-knarzende Lead-Vocals, die dem Rock die gleiche Ehre wie dem Reggae erweisen.

Kurz und bündig sind die Songs der Zauberer zwischen Rock und Reggae. In den Intros wird elegisch breit vorgelegt, um dann fix zur Sache zu kommen. Codas inszenieren die Anzugträger ebenso, wie sie sie meiden. Überraschend offene Schlüsse gehören zum Konzept. Überhaupt ist Reggae ja vielleicht eine unendliche Melodie, ein Lebensgefühl, das singende Höhepunkte hat, aber auch im Schweigen noch nachklingt. Stichwort: Verschleppung der Offbeats treffsicher auf die Eins. The Magic Touch erweisen sich als Magier des Beats, der gleichzeitig extrem ungerade und auf den Schlag genau rockend ist. Das macht ihren Reggae-Rock schwer tanzbar, regt aber doch an zu Bewegungsdrang.

Vielleicht ist dies das Geheimnis einer Musik, die zum Rock’n’Roll ebenso viele Brücken schlägt wie zum manchmal träge, dann wieder hochgeschwind zelebrierten Reggae. Es braucht nur ein paar solcher Songs, bis man sich fragt, ob die Beat-Musik genau so geklungen hätte, wenn sich Beatles und Stones mehr in Richtung Karibik als Indien orientiert hätten.

— snap! —

Auf dem Weg vorbei an dem Haus mit dem einzelnen erleuchteten Fenster gestern in dem “Blues”-Triptychon. Sieht jetzt grauer aus, weniger blau, was sich fotografisch nicht reproduziert.

Dann in der Schaubude am Tresen ROT gedämmert

bei einem zu bitter schmeckenden Gin-Tonic (Überlegung, ob auch der Geschmackssinn einen Dämmerungszustand kennt) und in Erwartung der Band. Der Zustand wartender Untätigkeit hat auch etwas von Dämmerung. Das beste Bandfoto ist das,

wo die Band noch nicht da ist. Gedanke an die stark empfundene Anwesenheit bei Abwesenheit. (Auch wegen Entzugserscheinungen von Lilly, Sehnsucht wäre dafür ein zu einfaches, ungenaues Wort. Versuche, diesen Zustand, der auch etwas mit Dämmerung zu tun hat, genauer zu beschreiben – hier mit der Dialektik der Dämmerung).

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