Sa, 9.10.10 (Mo, 11.10.10, 4:20): Marcus’ Director’s Cut

Weil die KN meinen Artikel mal wieder kürzen musste (kein Groll, Einsicht in Notwendigkeiten) hier dennoch mein „Director’s Cut“ zur Ergänzung – und weil er so schön war:

— snip! —

Irrsinn oder Ironie der Ironie?

Alexander Marcus und seine Fans feierten in der Halle400 eine irrwitzige Schlager-Party.

Kiel. „Alex! Alex!“, skandiert das Publikum in der Halle400, schon völlig aus dem Häuschen, lange bevor Alexander Marcus die Bühne betreten hat. Wen das Publikum da frenetisch herbeizitiert, wird von einem jener Video-Clips angekündigt, die bei YouTube über 20 Millionen mal angeklickt wurden.

Tsunami-tosend wird der Beifall, als die Backstage-Kamera auf die Tür mit der Aufschrift „Zur Bühne“ zoomt. „Seid ihr bereit?!“ lettert das Video. „Eure Probleme werden verschwinden!“, verspricht es. Und da steht der „King of Electrolore“ im grellen Scheinwerferschein und Blitzlichtgewitter der Fan-Kameras, spreizt weißgezähnt sein Schlagerstar-Lächeln und segnend die Arme – ein Messias der Schnulzenfolklore. Das Dampfhämmern der Electro-Beats wird betäubend, die Retro-Keyboard-Sounds flöten Volksmusikmelodien, und die Reinkarnation von Musikantenstadl, Hitparade, Neuer Deutscher Welle und Rave in einer Kultfigur singt ihre frohnatürliche Botschaft: „Guten Morgen, es ist ein schöner Tag, vorbei die Dunkelheit. Schenkel! Schenkel! Alle Mann zusammen!!“

Das ist „MEGA, eine Millionen mal sehr geil, sensationell, einfach spitze!“, spricht er seinen Fans aus der berauschten Seele und hat schon nach vier Songs „Spiel, Satz und Sieg!“ gewonnen. Zeit, sich eine Kunstpause im brandenden Beifallbad zu gönnen, die Sonnenbrille abzusetzen, sich durch die Schmalztolle zu fahren und wie ein Priester die geöffneten Handflächen in den siebten Schlagerhimmel zu heben. Zeit auch für das Publikum, nach der Ekstase im „Homo Dance“ die Feuerzeuge zu zücken, um wie am Ballermann oder im Oktoberfestzelt als eine roboterhafte Schar von Barbies und Kens, die „superglücklich sind, dass sie sich endlich haben“, im Glücksgefühl von „Freunde, das sind Menschen, die zur dir stehen“, zu schwelgen, jede Silbe selbst auf den Lippen. Alex’ Texte auswendig zu können, ist nicht schwer, denn sie reimen in der „Florida Lady“ so eingängig wie: „Du bist so kalt wie Eis, doch du machst mich so heiß!“ Oder, unterstützt von einem Techno-Ballett in Dirndl und Lederhose, noch schlichter: „Hallo, Halodri! Hollahi-hollaho!“

Spätestens, wenn Marcus und sein Publikum den „Hawaii Toast Song“ in den Techno-Ofen schieben, wird einem klar, dass all das zu irrsinnig ist, als dass es ernst gemeint und ernstgenommen werden könnte. Seit Pop-Art und Trash sind Ironie und die Ironisierung der Ironie der Stoff, aus dem solche Hypes gemacht sind. „Schlager beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal sagt, sie müssten sie haben“, wusste Adorno. Und den scheint Marcus gut gelesen zu haben, wenn er die sinnliche Sinnentleerung von Schlager- und Retro-Partys auf die absurde Spitze treibt. Wenn sein öliges Jürgen-Marcus-Michael-Holm-Lächeln eingefrorene Maskerade einer von viralem Marketing geprägten Kultur des Kults ist. Virtuos spielt er mit seinem Avatar, macht uns den Affen, der wir manchmal so gerne wieder sein wollen. Allein: Weiß das auch das jugendliche Publikum, das sich so mutwillig selbstverloren in und mit seinem Alex auf die Schenkel schlagert?

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1 Antwort zu Sa, 9.10.10 (Mo, 11.10.10, 4:20): Marcus’ Director’s Cut

  1. Pingback: Fr, 15.10.10 (Sa, 16.10.10, 5:43): Uneigentlicher Eigensinn des Sprechens, also der Sehnsucht und des Schüchternen | schwungkunst.blog

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