Mo, 11.10.10 (Mo, 11.10.10, 5:58): Friedrich 2.0 (1)

Er hustet, seit Wochen, unklar, was diese Lunge kränkt. Was die Ärzte sagen, was sie nicht sagen. Er ist beunruhigt, womöglich todgeweiht.

Letzte Bilder aus der pommerschen Heimat will er auf den Sohn übertragen. Ein Kampf auch dies, obwohl sein Sohn, die Zwei-Punkt-Null-Version, seiner Existenz zu(ge)hörig ist.

Er heißt Friedrich nach dem Zweiten und Karl danach, bindegestrichelt davor, der ihm vorvoran ging, dem Vater des Vaters, dem Zweiten, mit K allerdings statt C. 1945 starb Carl Meyer, auf der Flucht aus „Pommernland ist abgebrannt“. Und der Vater, Joachim, nach dessen Namen alle Enkel vorgenamt mit „J“ beginnen, Jörg, Jochen, gleichverzeitigt. Vermutlich. Vermisst irgendwo im Osten. Rotkreuzend unauffindbar.

Fridericus Rex, der Flötespieler, die vorromantische Sanftmütigkeit, wird bei Kunnersdorf, seiner preußischen Härte gehorchend, und als Herrscher ungewöhnlich selbst als Schlächter an seinem Schlachten teilnehmend, von einer österreichischen Kugel getroffen, die in der Brust seiner Tabaksdose stecken bleibt, sein Herz nicht ereilt. Legendär. Der Fremdenlegionär seiner selbst bleibt am Leben, erstmals rettete Tabak als Dosis ein solches.

Er hustet, seit Wochen, unklar, wie diese Lunge dem letztendlich wassergefüllten, ebenso sein Herzbeutel, dem Tod vorauseilt. Der Sohn womöglich vor dem Vater, wie der Enkel dem Urenkel vorausging.

Hinterpommern, Schivelbein, 1945. Der Russe ist weniger feindlich als gedacht. Er hat ein Herz selbst für Nazikinder, die mit Bleisoldaten hoch auf der protestantischen Zinne spielen. Das Blei ist deutsch, die Zinnsoldaten sind deutsch, die Kinder sind Menschen, Proletarier. Der Luther-Choral von „hoch auf der Zinne“ ist christlich, auch orthodox nachvollziehbar. Im weiteren Sinne. Proletarisch-diktatorische Projektile fliegen im März 45 in den dorfstädtischen, bürgerlichen Kirchturm. Man richtet sich auf etwas ein. Die Richter sind noch fern, der letzte Dichter ist nah – das bin ich.

Irgendwo im Osten, letzte Feldpostbriefe kommen vom Weichselbogen, fällt in diesen Tagen Friedrichs Vater. Oder wird gefangen genommen, stirbt hernach, am Geschoss des Hungers, der Kälte. Seinem 12-jährigen 2.0 hat er die Aufsicht und Obhut über die ohne ihn immer noch fünfköpfige Familie übertragen. Zeitlebens leidet das Kind an der ihm in Kindheit übertragenen Aufgabe. Allein, der Vater (und hernach Großvater) des Friedrich 2.0 konnte nicht anders, wusste keinen Ausweg als den des Sohns.

Mit zwölf schien er schon erwachsen, heldisch, genügend heidnisch, sommergewendet hitlerjüngelnd, der damalige Blick, heroisch voran.

Friedrich 2.0, 46-jährig, ruft zu selten zuhause an. Friedrich 2.0 ist meist nur ein Feldpostbrief, ständig Vermisster wie sein Großvater am Weichselbogen, letztes Aufgebot. Von seinen Eltern, vom Vater an der Heimatfront, von der Mutter im potsverdammten Keller, wo der die Bunkerdecke stützende Kirschbaum beim Bombenangriff dem Bruder der Mutter, seinem Onkel, Jürgen 1.5, auf den Kopf fiel. UK-gestellter, mütterlicherseits, Großvater, Flugzeugbauer, später in der „Waggonbude“ Dessau, sein Porträt an der „Straße der Besten“, jetzt eben dies Bild im Wohnzimmer der Eltern.

DDR, Friedrichs, „mein“ Vaterland, vermisst nach 20, 2punkt0 Jahren.

Das Mädchen aus Vorpommern (20), das er liebt, vergebend, vergessend. Greifswald, so nah an Pommern.

Und der Text, dieser ewige Text, der nicht zum Schweigen zu bringen ist, der sich erinnern will: An 1985, die Reise nach Polen, nach Schivelbein, die so sehr fremde alte Heimat? An die 1980 gestorbene Oma, die pfannküchelnde, Waffeln backende Liebe, die wie auf Federn ging? An dieses Gesicht der Mutter des Vaters, das F 2.0. wie ältere Eltern schien, wie gewonnen, wie die Palme, die vielfingrige Conifere im Ratzeburgischen Fluchtflur, hinter der er sich versteckte, zum Schein nur, auf dem Absatz hinter der Treppe hinauf?

Wie das Kind, das wahrnahm und wusste. Wie Friedrich-Karl, als er wusste: Ich muss jetzt mein Vater sein.

Wie das ist, wenn der Wilhelm den Friedrich verbannt. Wie es ist, wenn der Katt vor seinen Augen hingerichtet wird. Der Schöpfer den Schopf des Kindes haltend zum Hinschauen verurteilt, wie der Kopf fällt.

Wie das ist, nicht sein kann, und wie daraus eine Generation weiter die Vorstellung entsteht, dass man das Sein, das grausame, verändern muss. Selbst wenn es dazu grausamer Mittel bedarf.

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