Di, 02.06.2020 (#blackouttuesday)

In der Gruppentherapie geht es um Wut. Der sehr leicht aufbrausende Handwerker, der schon bei Sprachkritik von zu vielen Anglizismen (eins könne – und solle gefälligst – das doch auch auf Deutsch sagen!) laut wird, lobt zurecht die Gruppe, dass er diese immer wieder aufflackernde Wut, die er bändigen möchte, hier herauslassen dürfe. In der Tat lebt die Gruppe davon, dass sich eins hier nicht verstellen muss (und auch nicht soll), denn nur dann, so der Therapeut, könnten die Probleme wirklich bearbeitet werden.

Die Mitpatienten der auf vier Patienten plus Therapeut geschrumpften Gruppe fragen mich, wie es bei mir mit der Wut sei. Sie hätten den Eindruck, dass ich immer so ruhig sei, nie wütend, aber ob es vielleicht in mir brodele. Ich fühle mich gesehen, sogar ertappt – bis auf das unsichtbare Brodeln. Da brodelt nichts, ich kann keine Wut, ich bin konfliktscheu und harmonie- und gefallsüchtig. Eben das ist mein Problem.

Wir besprechen das, woher es kommen könnte usw. Ich sehe es in der Erziehung, in der Wutausbrüche, selbst kindliche, verpönnt waren. „Wer laut wird, hat nie Recht“, sagte der Vater apodiktisch, vermutlich weil er sich einen Kontrollverlust infolge Wut selbst verbat. Ich wurde gegenüber der Schwester vorgezogen, nicht nur weil ich ein Junge, auch weil ich „pflegeleicht“ war (ein Wort, das die Mutter später oft lobend verwendete, wenn sie von meiner frühen Kindheit erzählte). Im Gegensatz zur Schwester, die umso aufsässiger war (ihre Opposition gegen das Gefühl der Minderwertigkeit und Zurücksetzung) und heute noch ist, wen sie wütend und „unsachlich“ wird, wie der Vater mit dem Ton der Verächtlichkeit sagt (erst im jetzigen hohen Alter ist er etwas milder).

Ich lernte und verinnerlichte also schon als Kleinkind Wutvermeidung (Prinzip Zuneigung nur bei Wohlverhalten). Das führte im Lauf des Lebens zu einer Art Stau, der sich auf viele Arten körperlich manifestiert: Bluthochdruck, Asthma (das bekanntlich das Ausatmen, also „Loswerden“ von Luft behindert), Reizdarm (Ausscheidungsproblem), Fettsucht, Sucht überhaupt (Alkohol, Nikotin, THC, Zucker, Süßstoff), alles Maßlosigkeiten des nicht heraus- oder loslassen Könnens, die zur Anstauung nach innen und Tendenz zur Implosion führen.

All das ist mir schon lange als mein gleichermaßen Querschnitts-Problem klar, aber hier in der Therapiegruppe kommt es nochmal auf den Punkt, bringe ich es zusammen mit den Mitpatienten auf den Punkt. Das ängstigt mich einwenig. Aber hier ist ein geschützter Raum, da darf ich Angst haben, kann sie ausprobieren, ohne bedroht zu sein. Darüber wieder das Gefühl der Demut und Dankbarkeit, dass gegenseitige Selbsthilfe durch Zuhören und „darüber Reden“ funktioniert.

>> 02.06.2010
>> 02.06.2000
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