Sa, 20.06.2020

Der Vater klagt im Gespräch über das Gefühl, überflüssig zu sein. Kleine Solidarität meinerseits, weil ich das kenne (wenn auch aus anderen Gründen). Mit dem Besuch bei ihm und damit im Elternhaus wechselte ich von der eigenen Einsiedelei in seine. Ich habe das Alleinsein (nicht Einsamkeit, die es bei ihm eher ist) nur länger geübt (und kultiviert), das habe ich ihm voraus. Wir sitzen auf der Terrasse, umgeben vom jetzt im Sommer gewaltig wuchernden Garten (der Efeu greift geradezu nach einem), den er mit Baumschere und neuem Akku-Rasenmäher zu bändigen versucht – und sich dabei Gedanken über den Ladezustand des Akkus macht. Er hat mal gehört, dass Akkus falsch oder überladen werden können und wartet das Laden daher beunruhigt ab. (Später, als ich wieder zuhause bin, ruft er an, um mir den Ladezustand mitzuteilen (drei von drei LEDs leuchten) und quasi von mir absegnen zu lassen. Immerhin hätte ich ja Physik studiert, ich könne das daher wohl beurteilen. Kann ich. Alles in Ordnung so, drei Lampen an, das ist o.k. Schweigen geht auch, kennen wir. Ein unbehaustes Zuhause, in dem eins eigentlich stört. Z.B. den Garten beim Wuchern.

Als ich das Haus verlasse, schaue ich auf den Briefkasten, der dort seit knapp 40 Jahren unausgesetzt und unausgetauscht hängt, das Schloss entsprechend schwergängig (der Vater ölt dagegen an, seit etwa 30 Jahren). Die Plaste-Klappe hat sich verzogen und leicht gewölbt (daher wohl auch die Schwergängigkeit des Schlosses). Es ist jener Briefkasten, nach dem ich oft mehrfach täglich schaute, ob die Post vielleicht schon da gewesen sei, oder wenn schon ohne Brief, dann ausnahmsweise zweimal pro Tag ausgetragen würde. Ich erwartete Antwortbriefe von der Mitschülerin, in die ich verliebt war und die ich mit täglichen Liebesbriefen überhäufte. Es kamen keine. Nur einmal einer, ich möge doch die Briefflut abstellen, sie liebe mich leider nicht und werde auch weitere Briefe nicht beantworten. Ich schrieb dennoch weiter, beschränkte mich auf einen Brief pro Woche, naturgemäß dann sehr dick, weil viele, viele Seiten. Die kamen dann irgendwann zurück mit dem Vermerk: „Annahme verweigert“. Ich schrieb ihr weiter Briefe, die ich aber nicht mehr abschickte. Jetzt war meine Liebe ein Roman. Und ich und mein Schreiben überflüssig (also Kunst).

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