Mi, 01.07.2020

Warum fällt mir das Schreiben hier – genauer: dessen Regelmäßigkeit – so schwer? Die Tage sind wenn auch nicht voller Ereignisse, so doch voller Gedanken. Ich mache mir Notizen, um später nachzutragen (unübersichtliche Zettelwirtschaft). Aber es gelingt mir nicht, sie auch in die entsprechende Datei einzufügen. Schon das Öffnen der Datei erfordert Überwindung. Dann der Ärger darüber, dass ich dem Fluss nicht mehr nachgekommen bin („Mich reißen Ströme nur mit, keiner bin ich.“), und also sich das Nachtragen zu einer größeren Unternehmung auswächst. Prokrastination. Dabei ist doch die Form des hiesigen di.gi.ariums so angelegt, dass es genügt, jeden Tag ein bisschen aufzuschreiben (was ein Unterschied ist zu „zu schreiben“), sei es nur ein Wort. Ein durchaus „niederschwelliges“ Angebot an mich selbst, eine Struktur, die eigentlich nicht allein durch ihr strukturiert Sein, Regeln usw. den alten Gaul Geschichte scheuen lassen dürfte.

Ursachenforschung. Ad primum: Meine Konzentrationsschwierigkeiten, teilweise galoppierend in Verzettelung. Fehlende Tagesstruktur, in der es einen festen Tagesordnungspunkt „d.day-writing“ nicht gibt (genausowenig wie ehedem „Plastizieren am Morgen“), sondern ich immerzu auf „den richtigen Moment dafür“ warte. Mangelnde Disziplin und ausgeprägte „non-compliance“ gegenüber meinen eigenen (Therapie-) Verordnungen, überhaupt keine Ordnung, eher Chaos.
Ad secundum: Die Überlebtheit der Form: War ich mit dem 2000er di.gi.arium, dem Projekt „pretty public privacy“ (ppp), noch Avantgarde, weil es noch kaum Blogs und überhaupt keine Social Media gab, war das 2010 schon nur noch ein (bereits an-nostalgisierter) Reflex, der seine Berechtigung lediglich aus dem „Remake“-Charakter in Relation zum 2000er Experiment bezog, scheint es jetzt gerade im Verhältnis und Vergleich zu meinem eigenen Medienverhalten mit dauerndem Ge-WhatsAppe, Ge-Facebooke und Ge-Instagrame gänzlich obsolet. Das Medium ist gleichsam zu langsam (ich schreibe, dann konvertiere ich Fotos, dann muss ich es noch alles onlinen), während in den Social Media alles mit „One-Click“ geht (z.B. bei Facebook oben dieses Fenster: „Was machst du gerade, Jörg?“).
Ad tertium: Immer noch ungeklärt (wenngleich oft und immer wieder in Selbstreflektion der Form und der Produktionsgegebenheiten ventiliert) ist die Frage, warum ich das veröffentliche und nicht für die Schublade schreibe. Zumal die Zugriffszahlen gegen Null gehen, sprich es ohnehin eine öffentliche Schublade ist, in die niemand schaut (und auch besser nicht schauen sollte, wie ich zuweilen hoffe). Öffentlichkeit, „Nabelschau“ via Netz, damals 2000 „very sexy“ und auch ein bisschen revolutionär, hat sich in ihrem digital und allgegenwärtig Werden völlig gewandelt, ist sozusagen Mainstream und vielfach nur noch beliebig, also genau nicht mehr „sexy“. War es damals eine Maßnahme gegen das Verstummen, verstumme ich jetzt im Rauschen der vielen Öffentlichkeiten. Der Reiz des Exhibitionistischen ist abgestumpft. Es ist wie mit dem Sonette schreiben: es ist erstarrt und ein wenig mutwillig „ewig gestrig“. (Oder auch: Die Revolution frisst ihre Kinder.) Ferner ungeklärt sind die Verwerfungen, die sich früher aus der „ppp“ ergaben, namentlich die Seltsamkeit, dass Leser*innen bei realen Treffen immer schon alles aus dem di.gi.arium wussten, ich also nichts mehr zu erzählen hatte. Dass sich di.gi.arium und wirkliches Leben verschränkten, überschnitten und sich beeinflussten. Dass alles und alle zum Material wurden und sich daher manche unangenehm „gescant“ fühlten, wenn eins reales Leben teilte und eins immer annehmen musste, es werde sich im di.gi.arium geechot finden. Das große Projekt „das Leben als Roman“ (und umgekehrt), dieses „Ich schreibe mein Leben“ (und alle dessen größenwahnsinnigen Folgen) ist mir abhanden gekommen, bzw. auch so ein Projekt, das ich mit großem Elan begann, das aber nun versickert. (BTW: Ich muss mich dringend nochmal mit ANHs „Kleiner Theorie des Literarischen Bloggens“ beschäftigen).

Ungesund oder auch, wie Rainald Goetz in „Abfall für alle“ öfter meme-mäßig schrieb: „KRANK.“ (englisch auszusprechen, also auch die „Kränkung“ allusionierend). L. diagnostiziert, dass das di.gi.mäßige Schreiben für mich ungesund sei, vor allem in seiner ejakulativen Anfallsartigkeit (ich hatte das früher – für mich positiver – mit „spontan“ oder „écrire automatique“ etikettiert), dem Ungeformten, Unorganisierten. In seiner Struktur, und das zeige sich besonders jetzt im Scheuen und der Schreibhemmung, sei es der der Sucht verwandt, mehr der Nacht als dem Licht zugehörig. Paradox erscheint mir dann aber, dass mir solches Schreiben (besser: Aufschreiben – „this is a recording“, Mitloggen, Mitschneiden) so widerstrebt, bin ich doch sonst „gut“ im Zurückfallen in alte, ungesunde Muster. Sind vielleicht das Scheuen und das Widerstreben gesunde Reflexe? Dergestalt, dass es gegen diese Form, gegen dieses Verhalten der Entäußerung inneren Widerstand gibt, weil sie nicht mehr adäquat ist? In demselben Sinne wie das unerwachsene Verhalten, das als Kind mal sinnvoll und „rettend“ war, jetzt nicht mehr geeignet ist und daher – Therapieerfolg – abgelöst wird von erwachsenem Verhalten?

>> 01.07.2010
>> 01.07.2000
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