Mo, 20.07.2020

Die Stille nach dem letzten Glas. „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Steh’n.“ Diese Zeile aus einem Lied von Reinhard Mey fällt mir in der Gruppentherapie ein, wo einer der Mitpatienten aus der Therapie entlassen wird. Am Ende der Therapie reden wir immer über das Vorher (der „nassen“ Zeiten) und das nunmehr folgende (hoffnungsfrohe) Nachher. Im Dazwischen war die Therapie. Und was eins da alles gelernt habe. Und vom Stolz über das Geschaffte. Und davon, dass eins weiter vorsichtig und „achtsam“ sein müsse (oder solle oder wolle), weil ja Sucht was Lebenslanges sei.

Ich habe dann immer so andere Zwischengedanken. Jetzt, dass ich Enden und Anfänge nicht so mag, eher so das Dazwischen, das Ausgebreitete, die Fläche, nicht die Punkte, nicht die Pole, sondern die – jaha – Breitengrade dazwischen, lieber Ost-West, statt Nord-Süd. Und so weiter. In solchen Gedanken bin ich inzwischen. Und dann denke ich, dass ich den Gläsern vor dem letzten auch nachtrauere. Das ich diese „ihr Sünden, bleibet weit dahinten“-Geste nicht mag. Da steigere ich mich dann rein. Und dann fällt mir eben das Reinhard Mey-Lied ein, durchzechte Nächte mit schlauen Gesprächen. Da hilft’s auch nicht zu wissen, dass die Gespräche nur schlau schienen. So wie jetzt diese Gedanken auch nur scheinbar schlau sind. Oder widerständig oder so, oder meinetwegen revolutionär.

Und dann fällt mir ein, und dann sage ich das auch, dass nämlich Abstinenz auch echt ein Wagnis sei, betrachte eins die Kollateralschäden. Und schließlich seien die bei mir gewaltig. Ich nämlich, und ich sei ja schließlich nicht nur Journalist, der den Treibstoff brauchte, sondern auch und besonders und vor allem Autor, der den Treibstoff noch nötiger brauchen wird, und der, der Autor also, könne nicht mehr schreiben, nur noch aufschreiben (und auch das zunehmend weniger und vor allem schlechter).

Stille.

Das ausgedehnte Nachher nach dem letzten Glas im Steh’n. Und das eben jetzt seit geraumer Zeit. Über ein Jahr. Und also leerer Raum. Den habe ich versucht, mit Plastiken zu füllen, was Dreidimensionalem aus Ton, der – wie ich – trocknet. Austrocknet!

Nun, ich will bei der Wahrheit bleiben. Ganz so dramatisch, wie das in obig aufgeschriebenem Text klingt, ist es nicht. Dramatischer ist, dass ich im Retromodus in Sachen „Text über den Text“ bin. Das da so ganz viel von früher, von vorher, davor drin ist, anklingt, rausschreit. Dass ich halbvolle Gläser zu halbleeren erkläre, das ist das kleine, neu inszenierte Drama von heute wie damals. Das ist die Stille nach dem letzten Glas, die laute Stille all die hunderte, tausende Gläser im Dazwischen davor.

>> 20.07.2010
>> 20.07.2000
Dieser Beitrag wurde unter d.day.2020 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.