Mo, 10.08.2020

In der Gruppentherapie wird wieder das Hohelied auf die Abstinenz gesungen, auf die neue „lebendige Fülle“, die es nach der „betäubenden“ Überfülle des Saufens gibt. Warun regt sich dagegen in mir so ein Widerstand, eine Aufmüpfigkeit, was Revoluzzerhaftes? Es ist etwas von früher, von dem Wunsch anders zu sein, indem ich es (revolutionär) anders sehe, indem ich eine neue Perspektive, Blickrichtung entwickele. Diese Mutwilligkeit darin, dies Fühlen gegen eigentlich besseres Wissen. Es ist ein „not for me“, das nicht den trauernden Gestus der letzten Zeit, sondern den des eigensinnigen Aufbegehrens, des dezidiert Gegenentwürflichen (auch im politischen Sinne – anti-kleinbürgerlich) des vierten und fünften Lebensjahrzehnts (schon damals verspätet pubertär) hat. Glücklicherweise halte ich mich in der Diskussion weitgehend zurück. Der Therapeut merkt das und zwinkert mir zu. Er hat Antennen für mein Glühen dann, für das Alte darin. Wogegen ich mich auch innerlich heftig wehre: als ein Mitpatient seine Frühzeit, zehn Jahre Philosophistudium, immer nur Denken statt Handeln, gleichzeitig aber überbordend dionysisch, im nachhinein und aus der Perspektive von heute – nunja, sowas wie – verdammt. Mir fällt ein: „Geschichtsrevisionismus an der eigenen Lebensgeschichte“.

Auf dem kurzen Weg nachhause skizziere ich das widerständige Gefühl (genauer und eigentlicher: den möglichen theoretischen Überbau dazu) mit philosophischem Vokabular in die Sprach-Memo-App: „Ich verzichte, also bin ich.“ (Maßlosigkeit und Verzicht.) Das ist gar nicht mal asketisch oder mönchisch gedacht. Eher erinnere ich mich an die Hesse-Lektüre mit 19, wahrscheinlich „Das Glasperlenspiel“, wo ich den Gegenentwurf fand, die Entsagung aufgrund der Unerfüllbarkeit der (Liebes-) Sehnsüchte. Also Verzicht aus einer Fülle heraus, weil das Füllhorn leckgeschlagen ist.

(Heute wäre die Mutter 85 geworden. In meinem (Ge-) Denken finde ich gerade keinen Platz für sie.)

>> 10.08.2010
>> 10.08.2000
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