Mo, 24.08.2020

Gruppentherapie. Ohne dass ich mich vorgedrängelt hätte, wird heute mein Kreativitätsproblem besprochen. Ich hätte Probleme mit dem Schreiben an sich und vor allem mit dem Schreiben „wie früher“, berichte ich. Dass die Motivation ebenso fehle wie die Inspiration. Dass ich bei „alternativen“ (also eher nicht nacht-verhafteten) kreativen Tätigkeiten wie Plastizieren oder Malen auch „auf der Stelle träte“, kurzum es gehe seit der (heute auf den Tag genau 14-monatigen) Abstinenz auf dem Kunstfeld nicht voran, der Acker bleibe unbestellt, liege brach. Wir stellen fest, dass hier ein Abschied stattfinde und Abschiede seien schwer und schmerzlich. So weit, so verständnisvoll. Ich befürchte jedoch, nun komme der übliche Sermon, eins möge auch „das Neue“, das eins „durch die Abstinenz gewonnen“ habe, in den Blick nehmen. Aber – glücklicherweise – nein: Therapeut und Mitpatienten schließen sich meiner Trauer an, kennen die Wehmut an die Hochgefühle des Rausches, und auch „Bewusstseinserweiterung“ sagt einigen von ihnen etwas.

Solchermaßen innerlich gestärkt, versäume ich dennoch, mich gleich ans AUFschreiben des heutigen d.day zu machen. Verschiebe es weiter in den Abend. Ich prokrastiniere, indem ich Spielfilme unter dem Stichwort „Tornado“ herunterlade und an-, zumindest hineinschaue. Sie sind alle gleich gestrickt. Das menschliche oder Familiendrama um eine(n) Wissenschaftler*in, die/der kassandrisch warnt, interessiert mich dabei wenig. Ich spule nach den Szenen der Verheerung, nach dem Chaos, nach dem Hades, nach dem Untergang.

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So, 23.08.2020

Eine unerwünschte d.day-Abstinenz war eingetreten. Gründe unklar. Es hatte nämlich viel AUFzuschreiben gegeben. Stets verschoben, dann die Regelmäßigkeit verloren und mit dem Besonderen, das das d.day-Schreiben dann wird, nicht klar gekommen. Großer Berg. Bleibt nun unbestiegen stehen, umgangen. Heute Entschluss, statt nachzuarbeiten neu anzusetzen. Mitten hinein ins Jetzt anstelle des vor einer Woche.

Weit nach Sonnenuntergang, in die Nacht.

Also kein Jetzt, sondern Erinnerung. Z.B. daran, dass ich in den letzten 11 Tagen oft auf dem Balkon gesessen hatte. Arbeitspause. Mehr Pause als Arbeit, geradezu ein stoisch gleichmütiger Pausen-Beat. Ich hatte den Tauben zugesehen. Vorgestern waren sie „vergrämt“ worden. Das Vordach, unter dem sie Schatten gesucht hatten, wurde von einer Wohnung im hiesigen Haus gegenüber „abgespritzt“, mit einem Wasserschlauch vom höher gelegenen Balkon aus. Wo die Dachrinne des Vordachs ans Gemäuer stößt, hatten sie ein Nest gebaut. Der Wasserstrahl schwemmte zwei Eier fort. Sie brüteten noch einen Tag weiter, bis sie merkten, dass die Eier weg waren. Sie waren sozusagen treu, verrichteten „die Trauer der Arbeit, noch zu verrichten“. Ich fühlte mich solidarisch. Ich trauerte mit – ein bisschen. Dann hatte auch ich es vergessen.

Ich buk Knäckebrot heute, um wieder ins Regelgerechte der Verrichtung zu kommen. Nach dem Zwieback sah es aus wie karstige Küste. Mauervorsprünge zu eng zum Brüten.

Und der Sommer macht sich auf zum Zug ins südliche Winterquartier. Abends waren Krähen im lauten Chor übers Haus zu den Schlafplätzen geschwärmt.

>> 23.08.2010
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So, 16.08.2020

Sunrise.

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Mi, 12.08.2020

Da oben wäre jetzt das Fenster, wohinein der Abend sich verkriecht (oder: wohinein der Abend schlüpft). Auch so eine meiner Fantasien: Dachkammern. Dachkammern, in denen Frauen wohnen, in die ich verliebt bin. Wohin ich nicht die Treppe, sondern die steile „Stiege“ emporsteige. Und es ist Sommer, und es ist Abend, und ich komme aus der „wilden Welt“ (draußen brüllt der Sommer), und SIE hat ein leicht fallendes Kleid an, Hängerchen, und sie begrüßt mich barfuß, und sie hat mich erwartet, aber auch ein wenig nicht, denn sie mag es, wenn ich ungelegen komme, weil sie sich gerne ziert. Und es ist so warm unter dem Dach, und sie öffnet das Fenster oben unterm Dach, wohin ich von unten hinaufgeschaut hatte, sehnend schon, bevor ich sie kennenlernte, als sie aus dem Haus trat und fast über mich stolperte, der ich gerade vorbei ging, flanierte, zu Fenstern hochschauend, guck in die Luft, und es war in einem Sommer wie diesem gewesen. Und die Gardinen, Hängerchen, gehen im lauen Abendwind wie ihr Kleid, als ich und mein Atem darunter schlüpfen und sie fächeln. Und dann stehe ich am Fenster hoch über der stillen Seitenstraße, und unten ist das Grün so satt, so voller Fülle und wogend wie ein Meer, wir sind ein Meer. Und ich lese ihr das Gedicht, dessen einen Vers, den mit den drei Worten, den berühmten, die so anders klingen, meine Stimme sanfter, wenn ich sie IHR sage, ich unten vor dem Fenster in mein Notizbüchlein, das so zerfleddert ist, ein bisschen wie ich, das mit den getrockneten Wasserflecken, die es leicht wellen, gescribbelt hatte, für SIE, oder auch gleich mit weißem Strahl an die Hauswand, falls sie es so revoluzzerhaft mag, so auf- und hinbegehrend.

Und ich schaue auf.

>> 12.08.2010
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Di, 11.08.2020

In meiner fortgesetzten Nachspürsuche nach fotografisch oder filmisch abbildbarem Gefühl (oder als Trigger für die Erinnerung daran) tauchen bestimmte Motive emblematisch immer wieder auf, loopen sozusagen. Heute das Bild von Hohlweg und Bank – an der Kirche auf dem Weg zum REWE.

>> 11.08.2010
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Mo, 10.08.2020

In der Gruppentherapie wird wieder das Hohelied auf die Abstinenz gesungen, auf die neue „lebendige Fülle“, die es nach der „betäubenden“ Überfülle des Saufens gibt. Warun regt sich dagegen in mir so ein Widerstand, eine Aufmüpfigkeit, was Revoluzzerhaftes? Es ist etwas von früher, von dem Wunsch anders zu sein, indem ich es (revolutionär) anders sehe, indem ich eine neue Perspektive, Blickrichtung entwickele. Diese Mutwilligkeit darin, dies Fühlen gegen eigentlich besseres Wissen. Es ist ein „not for me“, das nicht den trauernden Gestus der letzten Zeit, sondern den des eigensinnigen Aufbegehrens, des dezidiert Gegenentwürflichen (auch im politischen Sinne – anti-kleinbürgerlich) des vierten und fünften Lebensjahrzehnts (schon damals verspätet pubertär) hat. Glücklicherweise halte ich mich in der Diskussion weitgehend zurück. Der Therapeut merkt das und zwinkert mir zu. Er hat Antennen für mein Glühen dann, für das Alte darin. Wogegen ich mich auch innerlich heftig wehre: als ein Mitpatient seine Frühzeit, zehn Jahre Philosophistudium, immer nur Denken statt Handeln, gleichzeitig aber überbordend dionysisch, im nachhinein und aus der Perspektive von heute – nunja, sowas wie – verdammt. Mir fällt ein: „Geschichtsrevisionismus an der eigenen Lebensgeschichte“.

Auf dem kurzen Weg nachhause skizziere ich das widerständige Gefühl (genauer und eigentlicher: den möglichen theoretischen Überbau dazu) mit philosophischem Vokabular in die Sprach-Memo-App: „Ich verzichte, also bin ich.“ (Maßlosigkeit und Verzicht.) Das ist gar nicht mal asketisch oder mönchisch gedacht. Eher erinnere ich mich an die Hesse-Lektüre mit 19, wahrscheinlich „Das Glasperlenspiel“, wo ich den Gegenentwurf fand, die Entsagung aufgrund der Unerfüllbarkeit der (Liebes-) Sehnsüchte. Also Verzicht aus einer Fülle heraus, weil das Füllhorn leckgeschlagen ist.

(Heute wäre die Mutter 85 geworden. In meinem (Ge-) Denken finde ich gerade keinen Platz für sie.)

>> 10.08.2010
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So, 09.08.2020

Next Loop: Prokrastination in der täglichen Schreibaufgabe hier, vom anvisierten Morgen, vor der Arbeitsarbeit, auf den Abend, nach der Arbeitsarbeit, und dann auf den nächsten Morgen vor der Arbeitsarbeit verschoben.

Schaue stattdessen Dokudrama über Kepler (und dann Galilei), über eine Zeit, als die Naturwissenschaft noch phänomenologisch statt reduktionistisch war. Loop des Nachnachvordenkens über die „Flugschrift“.

>> 09.08.2010
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Sa, 08.08.2020

Parole heute: „Lost in Loops“. Der Tagesverlauf während der Arbeit an der Arbeit (bzw. an der „Trauer der Arbeit, noch zu verrichten“) ist in der Arbeitswoche selbst ein Loop. Die Tage gleichen sich in den wiederholten Tätigkeitsrhythmen (Text korrekturlesen, Text einfließen lassen ins Layout, Umbruch bearbeiten, Bilder raussuchen, Bilder einfügen, Umbruch angleichen) und in den wegen der nur kurz möglichen Konzentration in den Loops der Arbeitsunterbrechung: Aufstehen, Zitronentee trinken, Gemüsestück oder Ölsardinen essen, raus auf den Balkon (ab ca. 13 Uhr, wenn dort Schatten ist), dort sitzen und den Loops der Tauben (Balz, Fressen als Übersprungshandlung, Ruhen unter dem Dachvorsprung, weil dort Schatten ist) zuschauen. Wenn es dunkel ist, die Sternen-, Planeten- und Mond-Loops anschauen. Kreisläufe.

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Fr, 07.08.2020

Auf dem Rückweg gestern im Hiroshima-Park noch Materialsammlung am (schon x-mal gefilmten) Wasserspiel. Heute das Gefühl dazu: Trunkenheit vs. Durst, Überfluss vs. Dürre, Sucht vs. Genuss, Schwimmen vs. Stranden (Abfolge des Schiffbruchs). Mir fällt das Schiller-Zitat zum Elegischen Distichon ein: „Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule, / Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.“

Ich nenne es (daher) „Elegisches Distichon“.

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Do, 06.08.2020

Hiroshima-Tag, 75 Jahre: Nach Jahren gehe ich erstmals wieder zu der Gedenkfeier im Hiroshima-Park, einmal die Rathausstraße runter, gleich nebenan. Morgen beginnt die GEW-Woche, Layout der September-Ausgabe der „Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein“, Schwerpunktthema Friedenserziehung. Dafür brauche ich noch ein Titelbild: die Lotusblüten auf dem Kleinen Kiel, Gedenkritual beim Hiroshima-Tag.

Früher, zu Politzeiten, war ich jedes Jahr da. Eilig als Parteisoldat. Gegenpropaganda, Gegenöffentlichkeiten schaffen. Flugis gegen den (Atom-) Krieg verteilen, für Sozialismus und gegen den Militärisch-Industriellen Komplex („MIR statt MIK!“). Das war so instrumentell wie jetzt auch, weil ich ja ein Foto für ein Arbeitsprodukt machen will.

Die alten Recken der Friedensbewegung. Das alte, ausgeblichene Banner letztes Jahr erneuert, aus Spendenmitteln. Inhalt immer noch derselbe – nicht etwa weil den Pax-Genoss*innen nichts Neues einfiele, sondern weil es immer noch 13.400 Atomraketen weltweit gibt, weil der Kalte Krieg nur zwischenzeitlich weg war, weil immer noch kein Frieden ist, weil „wir“ immer noch als Warner- und Mahner*innen unterwegs sein müssen, sisyphosische Kassandr*innen. Dennoch wirkt die Veranstaltung vergreist, nostalgisch, „ewig gestrig“ – wären da nicht die paar Fridays-for-Future-Jungaktivist*innen. Vor allem die *Innen, jung und aufbrüchig – und sommrig. Auch ewig gestrig, dass ich ihnen auf die Barfüße schaue, gedenkend nach unten. Und dass mir dabei auffällt, dass nach all den Jahren der Flipp-Flopp-Mode nun – wie davor-früher – Birki-Latschen en vogue sind.

Davon mache ich keine Fotos (obwohl das mit Tele reizvoll wäre).

Als die Lotusblüten aus Papier und mit Teelicht drin auf das kaum gewellte Wasser gesetzt werden, wird mein Blick anders. Früher fand ich das „kleinbürgerlich“, jetzt berührt es mich. Davon mache ich Fotos (zwar auch für die GEW-Zeitung vor allem aber in dem Modus seit einigen Tagen, Gefühle zu fotografieren). Die Lotusblüten treiben immer wieder ans Ufer, schwimmen nicht hinaus auf das grünschwarze Wasser. Als fürchteten sie sich vor der Weite (des aus ihrer Sicht Ozeans). Eins muss sie anstuppsen, aber sie treiben trotzdem immer wieder zurück, sammeln sich am Ufer, dicht gedrängt. Fotomotiv also mit der Tiefe der Weite (auch der Zeit).

Und ich gedenke, wie prägend für meine (politische) Sozialisation die ganze Atombomben-Geschichte war. „Pax optima rerum“, der Wahlspruch meiner Alma Mater. Und später, auch darauf fußend, die „Flugschrift“, in der wir einen erweiterten Friedensbegriff entwickelten, indem wir das herrschaftliche und objektivierende Denken als strukturelle Gewalt kritisierten. Auch das wirkt immer noch nach, wenn ich jetzt die Lotusblüten symbolisch, spirituell, ganzheitlich, vom Gefühl her betrachte. Das Private ist politisch – früher nur Spruch (von manchen Genoss*innen übrigens kritisiert), jetzt meine Revolution der Wahrnehmung und – ja – der Antastbarkeit.

>> 06.08.2010
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