Mi, 05.08.2020

Weiter auf der Suche nach Gegebenem in der nahen, alltäglichen Umgebung, das sich emotional aufladen lässt, bzw. Gefühl ist, das ich erst in solchem Spiegel empfinde. Stimmungsbilder, (bewegtes wie bewegendes) Stillleben. Erst die „tapfere Distel“ auf dem Mauersims gegenüber der Nordostseite des Balkons. Ebenso bebend (und trocken) in den sanften Böen des Hochsommerwinds die sparsam Blühenden im „Zen-Garten“ am Galeria-Kaufhof-Gebäude (auf dem Weg zum Einkaufen im Netto in der Quer-Passage), ein dreieckiges Stück naturbelassener (aber wenig artenreicher, weil’s hier im Abgasdunst nur wenige Genügsame aushalten) Brache mitten zwischen Straße, sterilem Gebäude und der Pinkelecke unter den Rolltreppen. (An die Wand hat jemand „ZEN“ getaggt.). Ich mache ein Filmchen, das beim Bearbeiten immer karger wird. Effekte: „altes Schwarzweiß“, teilweise „Negativ“ und dann Einfärben. Tonspur schalte ich auf stumm. Durch die mehrfache Filterbearbeitung der Clips bilden sich digitale Artefakte, was mich an die in den Grenzbereichen nicht mehr determiniert arbeitenden Filter in einigen Kompositionen von Gerald Eckert erinnert. Da „drückt sich das Material durch“ (… ins Gefühl).

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Di, 04.08.2020

Nachtrag zu gestern: Ich dachte nochmal über meine Sehnsucht zu IHR nach und stellte fest, dass da sehr viel Projektion am Werke ist. Am Anfang war nur meine Verliebtheit, das ungestüme Begehren (und die waren noch am authentischsten, weil lebendigsten). Als sich das nicht befriedigen ließ, benannte ich es in das Abstraktum „Liebe“ um. Ein Komplex und Geflecht aus mehreren Vorstellungen, Narrativen und jeder Menge Ideologie, das ich fortan auf sie projizierte, um das Gefühl der Enttäuschung (wegen des unvollkommen befriedigten Begehrens) zu betäuben – (Sehn-) Suchtverlagerung. SIE sagte auch mal, es war ganz am Anfang, dass sie nicht so romantisch sei wie ich. Sie kann sich nämlich in ihrer bedrückenden Situation keine Romantik (kein „Wegdriften“, wie sie es nennt) leisten. Mir ist jetzt klar, dass eins sich Sehnsucht leisten können muss und dass einer wie ich, alleinstehend ohne Verantwortung für ein Kind, finanziell und mit schon ein ganzes Stück abbezahlter Eigentumswohnung einigermaßen abgesichert (mit einiger Wahrscheinlichkeit selbst fürs Alter), ungemein privilegiert ist. Leid als Luxus. (Das Sein bestimmt bekanntlich das Bewusstsein, wofür obiges ein treffliches Beispiel ist.)

Am Nachmittag erforsche ich weiter meine Befindlichkeit, projiziere sie fleißig in das Alltagserleben. Kurze Déjavùs flammen auf, etwa die angenehme Frischluftmüdigkeit und von der Sonne nachglühende Haut, die ich früher abends in den Sommerferien hatte, nachdem ich den ganzen Tag am Strand oder im großelterlichen Dessauer Garten verbracht hatte. Dies synästhetisch und schwer in Worte zu fassen, unsagbar (auch so ein Luxusproblem). Ich verfalle auf die Idee, die sich schon durch das ganze vorliegende di.gi.arium spult, nämlich dass ich das „Unsagbare“ besser im Bild erfassen, genauer: inszenieren könnte. Und zwar von Vorgefundenem. Auf dem Weg vom Einkaufen zwei Fotos in die Schaufensterdekoration zweier Boutiquen:

Die Schwere des Kapitells der Säule des Tempels der Projektion der Sehnsucht

und die (Zen-) Leichtigkeit des milden Schattens eines Papierschirms (oder der sich drehenden Schirme lustwandelnder Damen in der Szenerie eines hochsommerlichen Barock-Gartens à la „Die Wahlverwandschaften“).

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Mo, 03.08.2020

In der Gruppentherapie, wo heute Suchtdruck und Suchtverlagerung Thema sind, sage ich, Sucht sei Kompensation für einen empfundenen Mangel. Da in der Abstinenz ein weiterer Mangel hinzukommt, nämlich der an dem vorher (neben den ungesunden Folgen des Konsums) auch entlastend wirkenden Suchtmittel, verlagert sich die Sucht auf ein anderes Mittel, das beide Mängel kompensiert, den ursprünglichen und den durch die Abstinenz neu hinzugetretenen. Der Therapeut kräuselt die Stirn und fragt mich und in die Runde, welches denn der „ursprüngliche“ Mangel sei (und wie eins sich „den Kick auch woanders holen kann“). Interessant, dass ich darauf keine oder ganz viele Antworten weiß. Der Mangel war (und ist) ein allgemeiner, ein weitgreifendes Ungenügen am Leben, dass sich vielfach manifestiert(e). Ich nenne als Beispiel den – in Zeiten der Pandemie noch frapanter gewordenen – Mangel an körperlichen Berührungen. Kaum noch Umarmungen, keine Küssse mehr, keine Zärtlichkeit, keine Möglichkeit zu „schnuppern“. Ja, echte Berührungen, die seien enorm wichtig, stimmt der Therapeut zu. „Sich als Mann und begehrt fühlen“, ergänzt er mit strahlenden Augen. Recht hat er! Auch das. Aber ich weiß noch nicht mal, wie das geht. (Wie bekommt eins Sex?) Wieder zuhause habe ich Männerfantasien, die ich mir aber nicht erlauben mag. Verzicht aus politischen Gründen. Aber eben auch ein weiterer Mangel, Gefühl der Begrenzheit, Gefangenschaft, Verlorenheit (nicht nur in der Unerfülltheit des Begehrens, auch in meinen verbotenen Fantasien). Und dann läuft sie wieder an, meine Ideologie-Mühle rund um das „not for me“ …

((SIE hatte neulich am Telefon benannt, was ihr fehle: Ein Mann mit Auto, Geld und am besten noch Haus, einer, der Sicherheit (auch solche äußere, neben der inneren durch „Wissen, wo’s lang gehen kann“) geben könne. Ich denke mit Schmerzen (und dem alten Gefühl des Ungenügens, daher auch gekränkt), dass ich nichts davon bieten kann, was sie in ihrer seit Monaten andauernden Not braucht. Und dann denke ich, dass ich ihr es natürlich gönnen würde, wenn sie so einen fände. Und das ist dann Suchtverlagerung von der Sehnsucht auf das gute Gefühl des edlen Verzichts auf sie und ihre Liebe. Stoff für einen schlechten Roman …))

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So, 02.08.2020

Erzählen 3.0: Im Telefonat mit IHR erzähle ich vom Erzählen, genauer: meiner Schwierigkeit, etwas zu erzählen. Diese Schwierigkeit besteht nicht darin, dass ich nichts von mir erzählen mag, sondern dass ich mit dem Modus Erzählen nicht erst neuerdings ein grundsätzliches Problem habe. Schon früher interessierten mich linear erzählte Texte wenig. Erst wenn sie das Erzählen problematisierten und daraus neue Formen des (nicht-linearen) Erzählens entwickelten, etwa Joyce im „Ulysses“ oder Arno Schmidt mit seiner Mehrspalten- und Snapshot-Texte. Ich benannte diese Schwierigkeit mit „Ich habe nichts zu erzählen“ (vielleicht sogar „nichts zu sagen“). Nur im Traum gelingt es mir, wenigstens mir selbst etwas zu erzählen. Im Moment des Aufschreibens (oder Diktierens in die Stenorette) kurz nach dem Aufwachen aber löst sich die zu erzählende Traumgeschichte auf. Wie bei der Unschärferelation, wo Ort und Impuls nicht gleichzeitig exakt bestimmbar sind, immer nur eines von beiden, wo also der Messvorgang die Messung verfälscht, unscharf macht, zerstört der Vorgang des Erzählens die zu erzählende Geschichte. Ich bin mir nicht sicher, ob das nur ein Phänomen mangelnder Konzentration bzw. mangelnden (Selbst-) Verständnisses ist. Womöglich entsteht das Problem auch, wenn ich mein Leben lebe, indem ich es erzähle, das Leben aber andererseits nicht erzählbar (also nicht lebbar?) ist, jedenfalls nicht linear, nicht scharf abgebildet (und abbildbar).

SIE hört sich das geduldig an, wenn ich so ins Theoretisieren gerate, wenn ich poetologische Ontologie betreibe. Sie hofft wie ich, dass sie dabei etwas von mir erfährt. (Wir beide mögen die Frage „Wie geht es dir? Was machst du?“ nicht.) Hinterher fühle ich mich verheddert wie nach dem vergeblichen Versuch, einen Traum aufzuschreiben.

>> 02.08.2010
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Sa, 01.08.2020

Abends auf dem Weg vom Einkaufen liegen vor meinem früheren Wohnhaus (Waisenhofstraße, Ecke Muhliusstraße) zwei gefällte Betonpoller. Am 16.07. hatte ich an anderem Ort schon so einen entdeckt (er lag auf meinem Weg wie jetzt dieser auch) und empfand das als symbolisch und daher buchenswert. Die Erzählung zu dem Poller hier fehlt, bzw. ich erzähle sie (noch) nicht, obwohl der Algenbewuchs des Pollers, der an einen Baumstamm erinnert, andeutet, dass der Poller eine lange Geschichte des dort Stehens hinter sich hat, die sehr wahrscheinlich (noch) niemand erzählt hat. Sie ist auch nicht ereignisreich, es sei denn Ereignisse, die sich in den Häusern rund um den Poller (unabhängig von ihm, es sei denn seine Gleichzeitigkeit) ereignet haben. (Nebenbei: Ich frage mich, warum in dem Wort „Ereignis“ etwas von „eigen“ steckt – vielleicht sogar „Eigensinn“?) Das durch das Fällen aufgeworfene Pflaster jedenfalls zeugt von einiger Dramatik des vorläufigen Endes nach jahrzehntelanger standhafter Bewegungslosigkeit.

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Fr, 31.07.2020

Beim Besuch beim Vater sitzen wir unter dem Sonnenschirm. Eine Libelle fliegt heran und hängt sich an die Schirmspinne, um auszuruhen. Sie ist reglos, stellt sich tot, sogar, wenn man ihren Hinterleib berührt. Ich fotografiere sie und denke: „crucified angel“. Das ist die Erzählung an diesem Tag, nicht die, die da heißt: „Ich habe im väterlichen Garten den Rasen gemäht.“ (Obwohl dem Garten Eden die Kreuzigung bereits einbeschrieben ist.)

>> 31.07.2010
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Do, 30.07.2020

Fundstück II. Wenigstens wieder etwas Geheimnisvolles, auch wenn sich daran noch nicht wieder Text kondensiert.

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Mi, 29.07.2020

Erneut Schreibhemmung. Text fehlt. Aber dann finde ich Text draußen, der die Textleere drinnen auf den Punkt bringt.

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Di, 28.07.2020

Warum mache ich mein Glück an Zahlen fest? Der Hausarzt bespricht mit mir meine Blutwerte. Sie seien viel besser geworden, jetzt nichts mehr außerhalb des Normbereichs, weder Langzeitzucker, noch Cholesterin. Da könne ich glücklich sein. Ich verkünde die frohe Botschaft als solche. Ich werde gelobt. Dafür, dass keine der Zahlen mehr fett gedruckt ist (wie die Werte, die außerhalb des Grenzwert-Intervalls liegen). Glück als Schrifttype.

>> 28.07.2010
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Mo, 27.07.2020

In etwa wörtlich so geträumt:

Die umgekehrte Geschichte – oder: „Die Ballade von dem Mädchen und dem Millionär (The Beauty and the Beast) mit dem Haus mit dem blauen Dach am Blauen Meer“: Wie fühlt sich der Millionär mit riesigem Haus am Strand (das Haus mit dem blauen Dach am Rande des Weges zum Campingplatz), wenn die, die er liebt, die er so liebt, sich doch dem armen Schlucker zuwendet? Er hat ihr gesagt, Geld spiele keine Rolle, und hat ihr alles Geld gegeben, immer wieder, aber die Millionen wurden nicht weniger (unerschöpfliche Quelle). Doch die Liebe zu dem armen Poeten war größer. Und so ging sie mit ihm (dem Poeten) aus dem Haus mit dem blauen Dach am blauen Meer in eine ungewisse Zukunft mit wenig oder gar ohne Geld. Und der Millionär dachte „not for me“ und saß allein in seinem Haus mit dem blauen Dach am blauen Meer.

Moral: Dass die Tugend siegt, die Liebe, über all das Geld und die Macht desselben, mit der eins alles kaufen kann – auch das ist Ideologie (und findet hier nicht statt). Natürlich mag ich diese Utopie: Das Proletariat siegt! Aber was ist mit dem Millionär und der Villa, die er geerbt hat, der für seine Millionen nie gearbeitet hat, was ist mit dem? Was wird aus dem und seiner bezahlten (er hat immer all seine Rechnungen beglichen) Liebe? Jetzt die Frau, die er liebt, in den Armen des armen Schluckers. Und er einsam in seinem abbezahltem Schloss. Das Kapital verheert nicht nur den, der es nicht hat, sondern auch den, der es hat.

Conclusio: Was wir wollen als aufrechte Revolutionär*innen, ist nicht das christliche „Die Ersten werden die Letzten sein“, sondern wir fordern: Alle sollen gleich und gleichzeitig sein, zusammengeschnurrt auf einen Punkt, beide Enden, die Ersten und die Letzten, vereint in einem Zentrum, wo es kein Erstes und kein Letztes mehr gibt. (Das ist die wahre klassenlose, weil dimensionslose Gesellschaft.) Die Utopie kann nicht sein, dass die Revolution die Verhältnisse nur umkehrt, das Oberste zu unterst stellt. Die wahre Revolution muss Oben und Unten abschaffen. Ein gutes Leben für alle, auch die, die es schon hatten.

>> 27.07.2010
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