HYPErLYNX 27.1: außerhalb der zeit, stehen - bewegen

"auszeit" #1

10 Jahre Gesellschaft für akustische Lebenshilfe

Visionär des unbegreifbar Neuen

"Ein Ende ist genau so gut wie ein Anfang", sagt Hauke Harder. Zehn Jahre "Gesellschaft für akustische Lebenshilfe" liegen hinter ihm, und den Titel "auszeit" des Konzertprogramms zum Jubiläum will er fortan wörtlich nehmen. Eine bemerkenswerte Kontinuität zeichnet Harders Programme von neuester experimenteller Musik, Klanginstallationen und immer mal wieder auch bildender Kunst aus. Als er die Gesellschaft 1989 zusammen mit dem Maler Rainer Grodnick gründete, wusste der promovierte Physiker im Grunde schon genau, was er die nächsten zehn Jahre machen wollte. Unbekannte Komponisten, besonders aus der amerikanischen experimentellen Avantgarde, nach Kiel bringen, "auch ein wenig aus einem egoistischen Interesse, so musste ich nicht mehr zu den Festivals in Köln und Frankfurt reisen, ich holte mir die Komponisten einfach her". Dass er dabei die institutionalisierten Größen der inzwischen "alten Avantgarde" wie Stockhausen, Nono, Boulez aussparte, gehörte auch zum Programm. Die Schallmauer des Neuen, "Komponisten zwischen 30 und 40", wollte Harder zu Gehör bringen, nicht die Explosionen vergangener Jahrzehnte. Oder, wie es die Pianistin Hildegard Kleeb, die Harder für diverse Konzerte und Uraufführungen engagierte, 1992 sagte: "Wir spielen Musik der späten 90er Jahre."

Harder, seit Grodnicks Ausscheiden 1993 alleiniger "Gesellschafter" der akustischen Lebenshilfe, ist ein Visionär, dem es um das "noch unbegreifbare Neue" geht. "Die Idee des unbegreifbaren Kunstwerks ist vielleicht das Herzstück der Arbeit dieser Gesellschaft, (...) das Kunstwerk, das durch nichts begreifbar ist als durch sich selbst." So formuliert Daniel Wolf, Komponist und zusammen mit Harder Gründer des Musikverlags "Material Press", ein mögliches Credo der akustischen Lebenshilfe. Harder selbst tut sich schwer mit programmatischen Äußerungen. Aus gutem Grund, denn allzu viel "Programm hinter den Programmen" verstellt den unvoreingenommenen Blick auf das Neue, das über bereits Vorhandenes, schon Formuliertes, Eindeutiges hinaus geht. "Die Idee vom Klang ist nicht so wichtig wie der Klang selbst", weiß Harder und grenzt sich so von der "Reißbrett-Musik" der seriellen Avantgarde ab. Er will "die Musik wieder mit Fleisch füllen", dem Fleisch einer "in den 80ern neu entdeckten Tonalität". "Painted cakes are real, too" ist der Titel einer seiner jüngsten Kompositionen, die in einem der Jubiläumskonzerte uraufgeführt wird. "Ein gemalter Kuchen ist genau so real wie ein echter. Aber man kann ihn dennoch nicht essen", so beschreibt Harder das labile Gleichgewicht zwischen Konstrukt und Intuition an der Front der neuen Klangvisionen.

Diese "Haltung", wie er es nennt und die er bei den von ihm präsentierten Komponisten schätzt, weil sie "Genialisches, Psyche und Ego" zu Gunsten "einfach guter Arbeit" hinter sich lässt, ist Voraussetzung dafür, dem Neuen (nicht nur in der Musik) auf der Spur zu bleiben. Aber sie verhindert vielleicht auch ein größeres Publikum. Denn das "Unerhörte" verlangt vom Hörer Disziplin. "Verstand und Konzentration sind Voraussetzung für ästhetische Wahrnehmung", sagt Harder, "eine Anspannung, die viele über die zwei Stunden eines Konzerts nicht aushalten". Und so ist seine Arbeit, die für die Öffnung des Zuhörers zum Neuen hin wirbt, auch ein wenig die eines Sysiphos. Von Sektierertum hat sich Harder dennoch immer fern gehalten, insofern ist auch der Name "Lebenshilfe" programmatisch.

Diese Hilfe zum Leben, die Annäherung an das Neue durch den Klang, wird uns fehlen, das ist sicher. Aber Harder sieht sein Projekt "in vollem Saft" abgeschlossen. Auch in der Organisationsform sucht er nach Neuem, bevor ihn eine Institutionalisierung "austrocknen" könnte. Die 1995 mit dem Preis der Landeskulturstiftung ausgezeichnete Leistung der Gesellschaft bleibt, und man kann sich Daniel Wolfs nur eine Spur zu emphatischem Diktum anschließen: "Akustische Lebenshilfe: Das Werk eines Jahrzehnts als Agenda für ein paar Jahrtausende".

 

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