Sa, 26.6.10 (Mo, 28.6.10, 3:47): Luftballons

Kieler-Woche-Endspurt als rasender Reporter. Erst nachmittags zweimal beim coolen Skater-Event “Hillside Championship” auf der Bergstraße. Wo man hätte hocken bleiben können, easy abhängend. Aber dann los muss ins Getümmel an der Hörn, um Nena zu besprechen.

Dort ist überhaupt kein Durchkommen mehr. Sardinenbüchse auf einem Hektar. Sehe nichts von der Bühne, höre nur, werde aber nach und nach immer näher herangedrängt von den von hinten nachschiebenden Menschenmassen. Schluss dann an einem Caipi-Stand, der im Weg steht, an dem sich die Ströme teilen, ich mich an ein Geländer klammere. Notizblock fast senkrecht an der Brust, Platz kaum noch für den Stift, ihn senkrecht auf’s Papier zu setzen.

Egal, es reicht, die Titel zu notieren, genaueres für ein musikjournalistisches, ästhetisches Urteil Notwendiges recherchiere ich später im Netz. Denn Nena spielt ihr Tournee-Set getreu dem dort Hingeschriebenen.

Wogende Massen. Auch wieder irgendwie gerührt nach all der Massenbewegungsdurchschüttelung, als zu “99 Luftballons” eben die in den blauen Himmel entlassen werden. Das Phänomen Pop. Heiße Luft, aber die herzerwärmend – oder so.

Beschäftige mich dann noch einige Stunden auf nena.de mit ihren Songs, kann Entwicklungslinien entdecken. Richtig hermeneutische Exegese. Im Text dann beides verschmelzen, die Luftballon-Atmo mit dem so genannt unbestechlichen Urteil als Musikjournalist. Alte Leier, aber immer wieder luftig schön.

— snip! —

“Kiel, willst du mit mir geh’n?”

Nena und die Kieler entdeckten ihre gegenseitige Liebe auf der “Unser Norden”-Bühne.

“Hier bin ich geboren, hier ist mein zu Hause, hier sind meine Leute, hier gehöre ich hin”, singt Nena im Titelsong ihres aktuellen Albums “Made in Germany”. Weil’s der Opener ihres Konzerts auf der “Unser Norden”-Bühne ist und Nena sichtlich begeistert von den Massen, die keinen Zentimeter Hörn-Asfalt mehr durchschauen lassen, macht sie aus dem “Hier” kurzerhand ein “Kiel”. “Dich verlass ich nie, meine Liebe!”

Der Liebesschwüre an die Fördestadt werden weitere folgen, denn auch die Lieder ihres aktuellen Albums handeln oft davon. Und die Kieler können nicht nur ihre alten Hits wie “Nur geträumt” oder “Irgendwie, irgendwo, irgendwann”, sondern auch die neuen fast alle mitsingen – ihre Liebeserklärung an Nena, die längst schon nicht mehr nur eine Ikone der Neuen Deutschen Welle der 80er Jahre ist. Ihr steiles Comeback 2005 mit dem Album “Willst du mit mir geh’n?” ließ uns eine runderneuerte Nena hören, die dennoch mit ihrer Band an die alten Zeiten nahtlos anknüpfte. So sind die alten Lieder zwar in ein neues, rockigeres Gewand gehüllt, aber eben keine ganz neuen Kleider. Immer noch schnarzen, fiepen und wummern die Synthie-Retro-Sounds aus den Keyboard-Tasten von Musical Director Derek van Krogh, ja nehmen in ihrer basslastigen Zuspitzung zuweilen sogar Impulse des auch schon seinen zweiten Frühling erlebenden Techno der 90er auf.

Dem Titel “SchönSchönSchön” (vom neuen Album) kann man da nur zustimmen. Zumal Nena ganz hin und weg ist vom Fördepanorama bei Kaiserwetter: “Was für eine schöne Stadt, was für ein schöner Tag, was seid ihr für wunderbare Leute”, komplimentiert sie ins Mikrofon, und das darf man als nicht bloße Pose begreifen, die an jedem Ort ihrer Tour anlässlich ihres 50. Geburtstages geflötet wird. Nein, Nena hat sich in Kiel verliebt und Kiel in sie. Wie anders wäre zu erklären, dass in den hinteren Reihen die Tatsache, dass man Nena auf der Bühne nicht sehen kann und auch der Sound durch die jubelnden Menschenmassen hörbar abgedämpft ist, mit umso herzhafterem Mitsingen wettgemacht wird?

Weitere “Wunder gescheh’n”: wenn Nena “Willst du mit mir geh’n?” anstimmt, gehen alle mit – und ab. “Lass die Leinen los” ist gerade für Kieler Sprotten ein verständliches Kommando, und so geht’s weiter auf große Fahrt durch Nenas Lieder. Inklusive andächtigem Zuhören bei den ruhigeren Balladen wie “Ganz viel Zeit”. Hier singt Nena in trauter Eintracht mit ihrem Sohn Sakias, wobei beide stimmlich soulige bis saftig bluesende Qualitäten entwickeln. Eine schöne Geste der von ihren Zwillingen bereits zweifach zur Oma Gemachten gegenüber der Enkelgeneration. Für Kinder – samt denen in uns, die ihre “99 Luftballons” noch immer so gerne mitsingen, wie damals – hat Nena ein großes Herz. Und die für sie, denn viele junge Fans im Publikum könnten ihre Enkel sein.

Ob es genau 99 sind, sei dahingestellt, aber zum Finale mit Nenas wohl größtem Hit steigen weiße Luftballons in den blauen Himmel über der Hörn. Samt wohl manchem Herzen, entbrannt in alter, neuer Liebe für Nena und ihre Songs.

— snap! —

(Stelle am Ende fest, dass ich meine Definition von Soul (auch von Blues) überprüfen/präzisieren muss. Das allgemeinplatzte in den KiWo-Besprechungen.)

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