Traum: Von einem Autor, dessen mehrfach aufgelegte Bücher sich eigentlich recht gut verkauften, wird bekannt, dass niemand seine Texte – es handelt sich um Lyrik – kennt, und wenn, dann nicht verstanden hat. Seine Bücher, so wird jetzt festgestellt, stehen in den Regalen vieler Menschen, aber in einer Umfrage geben ausnahmslos alle verschämt zu, sie hätten sie zwar gekauft, aber niemals gelesen, nicht mal drin geblättert. Auch die Rezensionen sind alle gefaket, beruhen auf alleinigem Hörensagen, beziehungsweise die Rezensent*innen schrieben von einander ab, begründeten das mit wenig Zeit und damit, dass so eine Rezension ja auch immer schlechter bezahlt würde. Auch der Autor – Lyriker – zeigt auf Befragen wenig Textkenntnis seiner eigenen Werke. Keines seiner Gedichte kann er auswendig. Er gibt an, sich zwar zu erinnern, dass er diesen oder jenen Text geschrieben hat, weiß auch ungefähr wann, habe aber zu seinen Texten ein Gefühl der Fremdheit. „Vielleicht habe ich sie nur geträumt“, sagt er. In einer Fachkonferenz über den Dichter wird dieses Phänomen, was „in der Lyrik, gerade der modernen, gar nicht mal so selten sei“, so einer der Fachleute, verhandelt. Die Frage steht im Raum, ob Texte, die niemand kennt, gelesen oder gehört hat (lediglich von ihnen), überhaupt vorhanden seien. Immerhin seien sie zuhanden, wird mit schlauaugenbrauenhochgezogenem Bezug auf Heidegger eingewandt, ontologisch sei das freilich, zugegeben, ein recht schwaches Argument.
Ich, Teilnehmer der Konferenz, aber nur berichtend für die Zeitung, werfe ein, dass ich davon ausginge, dass Texte wie überhaupt Dinge in der Welt seien, selbst wenn niemand sie wahrnehme. Es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als … und so weiter. Insbesondere sei das der Fall, wenn es sich um Texte handele, die sich wie bei namentlichem Dichter so sehr um das Unsagbare und die Unsagbarkeit an sich drehten. Den Texten namentlichen Dichters sei also „ihr Verschwinden im ungelesen und ungehört, besser noch unerhört Sein immer schon immanent“. Insofern könne eins – auch im Sinne der guten Verkäufe – von Erfolg sprechen, wenn das Unsagbare auch unlesbar, zumindest ungelesen und damit „erlesen“ sei. Ich versteige mich zu der These, das poetologische Prinzip solcher Texte sei, dass in ihrem Geschaffenwerden bereits das Autodafé, ihre Ver-, besser Zernichtung „schlummere“. Das sei ihre immer mitzudenkende ontologische Dialektik. Das Wort „schlummern“ hätte ich dabei mit Bedacht gewählt und mit Anspielung darauf, dass Schlaf, wie es so schön heiße, ein „kurzer, kurzer Tod und Tod ein langer, langer Schlaf“ sei.
Gestern wäre Paul Celan 100 Jahre geworden, und ich trinke nach dem Aufwachen aus dem Traum über den Text in der nebligen Frühe einen schwarzen löslichen Kaffee mit viel Soja-Milch.