Di, 26.10.10 (Do, 28.10.10, 2:27): Aufersteh’n!

Abends durch die Katakomben des Opernhauses (wenn auch oft schon durch sie geschritten, für mich immer noch ein unübersichtliches, verirrbares Labyrinth) ins Klaiber-Studio, um dort für KN der Probe des Philharmonischen Chors Kiel zu Mahlers 2. Sinfonie, der „Auferstehungs-Sinfonie“, zu lauschen.

Platziere mich, abgeliefert vom Chorleiter, hinter den eingepackten Pauken, lege mein Notizbuch auf ihre holzbrettgeschützten Felle und bin schon dadurch der Musik nahe. Mahler! Den ollen mochte ich ehedem nie, war mir alles zu schwülstig, zu mulstrig spätromantisch. Jetzt indes (aber schon vorher) entdecke ich, wie er die Brücke baut von der Romantik zur Moderne, vom warmen, kaminfeurigen Gefühl zur kalten Erkenntnis eines vom Tod geprägten Jahrhunderts. Eine Vorahnung.

Entdecke unter den Chorsängerinnen die Kommilitonin von sehr damals aus der Studentenkantorei, die ich schon immer irgendwie faszinierend fand. Vielleicht auch, weil sie den Mathematiker heiratete, der mich mit Engelsgeduld durch die Epsilons der Differentialrechnung (Analysis III) geleitete, immer verständig, wenn das Studentenhirn an solchem verzweifelte. Und man ihm dann dienstagsabends (wie an diesem Dienstagabend) zuschauen und -hören konnte, wie er als Korrepetitor am Klavier die Männerstimmen durch die Bachchoräle führte. Oder durch Mozarts Requiem. Immer vertieft in die Tasten, doch wach für jeden falschen Ton, der ein infinitesimales Epsilon neben der Spur lag.

Mahlers „Aufersteh’n“, der Klopstocksche Ruf (aus einem – echt jetzt! – schlechten Gedicht) in ein so sanftes, so wissendes, wiegendes, so avantgardistisches auch, Klangbett gelegt. Am Klavier, gesten- und wortreich der Chorleiter David Maiwald. Im Gespräch in der Probenpause in seinem spartanisch zelligen Büro erweist er sich als ein wundersam Verhuschter, Nerd. Meine Sympathie dafür, für dieses unbedingte Versunkensein in Kunst, dieses aus der Welt gefallen Sein in eben diese. Er will mich sofort akquirieren für den Philharmonischen Chor, dem Männerstimmen fehlen, zumal kundige. Wäre ich vielleicht, bin ich aber nicht, weil auch an Dienstagabenden – wie diesem – oft in den Job verhaftet. Allein, überlege, warum nicht? Täte Singen meiner atemlos-asthmatisierten und zerdichteten Stimme nicht gut? Singen, der Dienst am Bachschen Gott, der in jedem ist, der ein Sensuarium für Klänge, Töne hat. „Alles was Odem hat …“

Derweil im zu kühlen Kopf und auf dem weißseitigen Block schon den Artikel vorformuliert. Während Mahler klingt, habe ich ihn schon verschriftet. Ein Zugriff, eine Zuführung in das Gefängnis des Textes. Ich sein Wärter. Menschenscheu und doch an Humanität orientiert. Wenn das „Aufersteh’n“ erklingt, bereits die ersten Tränen, die buchstäblich auf die verzeichneten Buchstaben tropfen. Habe ich schon wieder so nah am Wasser mein Biwak, mein Camp, meinen Claim gebaut? Heim die paar dutzend Meter vom Opernhaus zum Rathausstraßengrab mit einer unbändigen Rührung. Fahre die runter, trinke mich mit Rotwein klar und schreibe dann wie folgt – auferstanden:

— snip! —

Auferstehen in jedem Ton

Der Philharmonische Chor Kiel probt die Auferstehungs-Sinfonie als Keimzelle für das Mahler-Mitsing-Event.

Kiel. Wer weiß, wie viele Sangeslustige sich noch anmelden werden zum „großen Mahler-Mitsing-Event“, der Aufführung von Mahlers „2. Sinfonie, c-moll“ am 14. November im Schloss, bei der jeder, der mag, im Schlusschor die gesungene Auferstehung mitfeiern kann. Da braucht es als „Keimzelle“ einen Chor, der die sinfonische Kantate schon mal etwas genauer unter die Ohrenlupe genommen hat.

David Maiwald, Chordirektor der Kieler Oper und als solcher auch Leiter des Philharmonischen Chors, will bei der Probe vor allem die Vorstellungskraft der Sänger für den Klang schulen. Er lässt die Partitur auf dem Klavier vogelzwitschern, Präludium für den ersten großen Choreinsatz. „Nutzen Sie dies, sich den Einsatzton schon mal vorzustellen.“ Weich soll dieser Akkord auf dem verheißenden Wort „Aufersteh’n“ des Texts von Klopstock, den Mahler um eigene Verse ergänzte, „quasi hereinschleichen“, so Maiwalds Klangideal. Wobei eben diese Weichheit ein Problem darstellt, denn „je weicher die Musik, desto schwieriger die Intonation“. Das Klavier bringt es an den Tag: „Wir sind gesackt! Sie zerfließen ja jetzt schon vor Mitleid, das darf nicht sein“, feuert Maiwald seine Sänger an und bietet eine Klangmetapher, die sofort Abhilfe schafft: „Segeln Sie kontrolliert die Töne hinunter, mit Thermik unter den Flügeln!“ Denn auch wo Mahler die Stimmen nach unten führt, geht es doch immer aufwärts, „da muss Auferstehen in jedem einzelnen Ton sein.“

Gegenbewegungen zwischen notiertem und vorgestelltem Klang, die auch sonst diese Musik bestimmen: Etwa in den Phrasierungen, die den Atem anders führen, als man als Sänger zunächst annimmt. Ein göttlicher Hauch eben. „Sie wissen ja, wie das mit der Ewigkeit ist: Da ist sehr viel Zeit im Spiel, und die müssen wir uns nehmen“, fordert Maiwald und erzeugt damit bei den Sängern einverstandenes Schmunzeln. „Wer hier zu spät kommt, hat gewonnen“, gemahnt er zur Ruhe beim erneuten Einsatz. „Hören Sie mal, diesen irren Akkord! Nehmen Sie sich Zeit, den zu genießen – fühlt sich nicht gut an, ist aber genau richtig so.“ Eine „Anti-Klimax“ ist auch in solchen Fermaten angesagt: „Singen Sie darauf hin, aber hinein ins Pianissimo!“

Maiwalds bildreiche Anweisungen zur Klanggestaltung beflügeln den Chor ebenso wie der Text in seinen oft plötzlich wechselnden Stimmungen. „Was entstanden ist, das muss vergehen!? Was vergangen, auferstehen!“ – das gilt auch für die Musik. „Fanfarengleich“ solle das „Bereite dich zu leben!“ die Auferstehung im Gesang erfahrbar machen, nicht zuletzt für die Sänger selbst. Aber Obacht: „Wir sind hier die Musikschaffenden, nicht die Konsumenten“, warnt Maiwald. Und deshalb darf man sich am apotheotischen Schluss auch keinesfalls in die Noten vergraben. „Zu Gott! Da müssen Sie rausschauen! Folgen Sie ihm, sonst haben wie hier kurz vor der Apokalypse noch eine Katastrophe.“

So gelingt der Schluss auf einem bewusst „nicht ganz geheuren Akkord“, die Klangsaat ist gesät, die chorische Hefe angesetzt, um beim Mahler-Mitsing-Event aufzugehen. Und wiederaufzuerstehen – denn das ist der Philharmonische Chor schon mit dem reich beklatschten Fauré-Requiem vor einem Jahr. Jetzt erweist er sich als flexibel formbarer Klangkörper, dem allerdings noch einige Männerstimmen fehlen. Maiwald nutzt daher die Gunst der Stunde, nicht nur zum Mitmachen bei Mahler aufzufordern, sondern auch im Philharmonischen Chor. Chorerfahrung sei für sangeswillige Herren nicht verkehrt, aber keine Voraussetzung, denn für seine professionelle Stimmbildung ist der Chor bekannt.

— snap! —

Das Aufersteh’n nachts. Muss nochmal raus, urinieren, das auferstand’ne Glied masturbieren. Muss nochmal textwärts, lyrisch Erträumtes skizzieren. Schlaf- und drogentrunken. Textwerk arhythmisch mittennachts und früh vermorgent.

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