Mitten im Tod sind mit dem Leben wir umfangen

Einige ganz lebendige Eindrücke von Alban Nikolai Herbsts Lesung aus dem „Sterbebuch“ „Traumschiff“ im Literaturhaus S.-H.

Kiel. Das ist Lastotschka, da direkt vor mir sitzend, mit dem Rücken zu mir, lauschend. Und manchmal bebt ganz leicht, feenseeschwalbenhaft die sanfte Biegung ihres rückwärtigen Halses, wo er in die schmalen, leicht hochgezogenen Schultern überschwingt, wo die Haut dünn ist und duftet, wo die Ader pulst – und ich dürste …

Wie einst Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“ während eines Vortrags über den Tod und die mit solchem verbundene Lebensgier jene Körperpartie der „kirigisenäugigen“ Russin Madame Chauchat bewunderte und den durchaus nicht flüchtigen Blick sogleich in ein unerfüllbares Sehnen verwandelte, ergeht es Gregor Lanmeister, als er als Reisender auf dem „Traumschiff“ der ukrainischen Pianistin begegnet, die er fortan (russisch für „Schwalbe“) „Lastivka“ (Koseform des Namens: Lastotschka) nennt und ihr das verschweigend schreibt vom langsamen Scheiden aus dem Leben. Vom Tode also, von dem wir laut einem gregorianischen Choral „media in vita“ schon umfangen sind.

Gregor Lanmeister, der gealterte Mann, ehedem Handlungsreisender in dubiosen Geschäften, „ein echtes Arschloch eigentlich“, nunmehr als einer der 144 Todgeweihten auf der „Barke“ durch die sieben Weltmeere schippernd (er weiß nicht mehr, wie lange schon – und wie lange noch), ist der Protagonist, genauer genommen Chronist eines zeitlos Gewordenen, in Alban Nikolai Herbsts beim Hamburger mare Verlag erschienenem Roman „Traumschiff“. Als „Sterbebuch der Extraklasse“ bezeichnete die FAZ jüngst das Werk, das zwar allegorienreich um das Thema „Tod“ kreist, aber eigentlich ein Buch über das Leben ist. Und ein Großentwurf, wie beide, Tod und Leben, ineinander übergehen und einander wechselseitig dialektisch bedingen. A propos Großentwurf: Als „überinstrumentiert“ bezeichnen einige der (bisher viel zu raren) Kritiken solchen und ziehen Parallelen zum „Zauberberg“. Auch wenn Herbst sie ablehnt – Thomas Mann verabschiede ein ganzes Zeitalter und das stilistisch deutlich manirierter als man es Herbst zwischen den Zeitungszeilen nicht erst beim „Traumschiff“ vorwirft – sind sie naheliegend: Clawdia Chauchat versus Lastotschka, Hans Castorp versus Gregor Lanmeister, Kreuzfahrtschiff auf der weiten See versus Berghof in der Weite der Alpen. Nicht zu schweigen davon, dass bei Mann wie Herbst die metaphorischen Namen des Figurenkabinetts sie als (Arche-) „Typen“ auszeichnen.

Doch solche eitle Rezensentenfreuden am Ent- und Aufdecken von Kassibern, die den Text zwar spielerisch (man könnte auch sagen: poetisch) durchziehen, die ihn aber nicht ausmachen, schon gar nicht (er-) klären, führen in die Irre, hört und sieht man Herbst live lesen. Etwas steif wirkt er in seinem distinguierten Outfit, tiefdunkelbrauner Anzug, Krawatte bis über den Kehlkopf gebunden, wie er da vor der Lesung freundlich Freunde oder aus dem Netz gut Bekannte wie mich begrüßt. Die Dampfwolken aus seiner E-Zigarette sind so beredt wie seine herzlichen Begrüßungsworte. Traumschiff-Abendanzug in der Raucherecke? Wiedergänger Lanmeisters, der nicht sein Alter Ego ist – oder doch? Und jetzt gleich eine eigentlich schon tote „Wasserglaslesung“ …?

Nichts dergleichen. Herbst lässt das Wasserglas unberührt, schenkt sich (mehrmals und zum Lesefluss dramaturgisch passend) Wein ein – weißen wie der Seeschwalben Federkleid, nicht sterbensblutroten. Hängt das Jackett schwungkunstvoll über die Lehne, befreit seinen Hals von der knebelnden Krawatte, knöpft das Hemd auf, krempelt die Ärmel hoch … Und beginnt mit einem Gedicht aus „Der Engel Ordnungen“, in dem den „Versen der Sehnsucht“, die Lanmeister fortan weitersingen wird, mal komisch, mal verklärt, nicht von ungefähr das Adjektiv „morsch“ vorangestellt ist.

Schon dieser Auftritt ist eine Entgegnung dem ganzen Vanitas-Zusammenhang, der hier aufscheint, das „Sterbebuch“ zwar prägt, aber den es zugleich konterkariert. „Ohne ihre Banalität sind die Menschen nicht zu verstehen“, flüsterte Lanmeister sein schon längst als Leiche von Bord gegangener Freund zu. Und genau so ist es: Leben wie Tod sind einerseits banal, andererseits sind sie ganz großes Welttheater auf der kleinen Barke, Rettungsboot …

Meinem (Facebook- und litblogs.net-) Freund ANH traue ich zu, dass er auch seine Lesungen so präzise inszeniert wie seine Romane, Hörstücke und Gedichte. Nicht zuletzt in seinem literarischen Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, wo man vor vier Jahren sein Ringen um den damals noch als „Totenschiff“ betitelten Text verfolgen konnte, macht er deutlich, dass pralles Leben und dessen Kondensation im (toten?) Text dialektisch sind, dass man im und mit Text nicht nur lebendig wird, sondern auch neues Leben erzeugt – über den Tod, der uns alle irgendwann ereilt, hinaus.

„Lastotschka“, vor mir in der Reihe sitzend, hat sich jetzt einen Schal um den Hals gewunden. Will sie sich verbergen vor meinen und Gregors sehnenden Blicken? Oder – und das ist das Leben, von dem wir nah dem Tode so poetisch zärtlich umfangen werden –, fröstelt sie ob beider nur?

ANH liest aus „Traumschiff“ am Literaturtelefon Kiel

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