Fr, 15.10.10 (Sa, 16.10.10, 5:43): Uneigentlicher Eigensinn des Sprechens, also der Sehnsucht und des Schüchternen

„Sicher ist, dass es ein Sehnsuchtsbuch ist.“ (Feridun Zaimoglu über seinen Roman „Hinterland“)

Im Forum tage-bau habe ich mich unbeliebt gemacht in der von mir vermiedenen, wenn nicht unterdrückten Debatte über die Streichung des tb bei litblogs.net. litblogs.net führte (nachvollziehbare) Argumente der „Literarizität“ ins Feld. Darüber ist jetzt zu diskutieren – also wiedermal darüber, was wann wie und warum Kunst ist oder eben nicht.

Eine höchst deutsche Diskussion vor dem Hintergrund von „E“ und „U“, welcher seltsamer und daher zu erforschender Weise nur im selbsternannten „Land der Dichter und Denker“ aufgespannt wird, sonst nirgends. Als selbst recht erfolgloser (bekannt verkannter, darob selbst dazu ernannter, „gefühlter“ 😉 Künstler wie gleichzeitig als zeitungs-fuzzinder Besprecher oft solcher (gnädig meist) hat man dazu natürlich eine Meinung. Aber eben nicht die, dass alles, was sich so selbst ernennt, Kunst ist, wiederum einräumend (und daher in mancher Kritik sehr gnädig), dass Kunst eigentlich nur da ist, wo sie sich als solche proklamiert.

Alexander Kluge und Oskar Negt führten (in Folge Brechts) die Kategorie des „Eigensinns“ in die Kunstdiskussion ein. Also eine Kategorie des Widerstands. Wie also Eigensinn als Widerstand allein Kunst konstituiert. Man könnte es auch – wie in der Definition von „Literarizität“ oder auch „Poetizität“ – als „Uneigentlichkeit des Sprechens“ bezeichnen, den „uneigentlichen Gebrauch der Sprache“, ergo ein Dissidenz-Phänomen.

Kunst – gleich welchen Genres, sprachlich, musikalisch, bildend – scheint also genau dort zu entstehen, wo ABWEICHUNG ist, Infragestellung des – wiederum aber auch nur wieder so genannt – „Normalen“. Das scheint mir als Definitionsbeobachtung brauchbar, die Abweichung, Deviation, wenn man es weiterdenkt: die Perversion.

Insofern, als Perversion, betrachtet, wäre allerdings auch solches Kunst: Sopranistin Eva Lind und ihr Mopps Wendy versuchen in der heutigen Sendung „DAS!“ des NDR, gemeinsam zu singen. Schaurig, Schauerfeldstudie.

Es wäre also auch zu betrachten die Richtung der Abweichung: Bewegt sie sich auf den Konsens zu oder davon weg? Auf zu ist, so schätze ich es ein, kein wirklicher Eigensinn. Davon wie von allem weg, schon. Es kommt also offenbar auf eine Uneigentlichkeit an, die so quer steht, dass sie nicht verwertbar ist. Was wiederum das Ideologem birgt, dass Kunst nur da ist, wo sie nicht oder nur mit Aufwand des Rezipierenden verstehbar ist. Ein Ideologem, das ob seines elitären Hintergrunds ebenfalls abzulehnen wäre.

Intuitiv ist klar, dass Eva Lind und auch ihr Mopps sich zwar künstlerischer Mittel bedienen, aber weit jenseits von Kunst sind. Allein, wie begründet man das? Und wie jenseits der Intuition weiß ich, dass Alexander Marcus als inszenierte Ironie der Dissidenz eben doch Kunst ist?

Auf einmal die Einsicht, dass es sich in Kunst auch immer um Sehnsucht handelt, handeln muss! Dass Sensucht, wo sie fehlt, die Kunst nicht ist.

Und dann so fraglos, dissident, einverstanden eigensinnig und uneigentlich meinem eigenen und dem von Kollegen erlauschten Sprechen auf den Lippen am fremdelnden Abend begegnend, Einfälle für ein Gedicht – über eben die Sehnsucht:

„an den blättern der gilbe rand / wenn sie fallen jetzt / herbst / eine traurige sehnsucht / ein, nicht mein / oder doch-dochtend / flammend als kerze in dies fenster gestellt / sterbendes lied / das bin ich.“

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1 Antwort zu Fr, 15.10.10 (Sa, 16.10.10, 5:43): Uneigentlicher Eigensinn des Sprechens, also der Sehnsucht und des Schüchternen

  1. Hartmut Sörgel sagt:

    Sehnsucht?

    Mich treibt die Sehsucht, oder sogar alle Sinne.
    Ich beobachte immer und fantasiere und spiele mit den Sinnen, den Bilder und Farben,
    wie sie musizieren und sprechen.
    So entstehen Texte und Bilder, als hätte nicht ich sie erfunden, sondern zum Beispiel
    der Herbstniesel, der auf den bunten Ahorn fällt,
    und dabei redet, singt, rauscht und mit den Blättern spielt.

    Hartmut

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