Mi, 22.07.2020

Beim Nachmittagsschlaf träume ich von der Uraufführung einer von mir komponierten Sinfonie, die ich „Hypertrophy Symphony – Die Übervollendete“ genannt habe. Der übliche Größenwahn, der im Traum – ebenso üblich – verhindert bleibt. Die Uraufführung findet in einem riesigen, kugelförmigen Hörsaal statt, dessen Sitzreihen enorm steil ansteigen, so steil, dass eins in den obersten Reihen ähnlich einem Anatomie-Hörsaal aus der Vogelperspektive auf die Bühne schaut. Ich habe einen Sitzplatz dort ganz oben, den ich unbefriedigend empfinde, weil hier kaum noch Klang ankommt und weil ich ohne Teleobjektiv keine brauchbaren dokumentierenden Fotos von der Uraufführung machen kann. Überdies ist der Weg viel zu weit, um nach dem Schlussakkord des siebten und letzten Satzes dieses mit gut zwei Stunden Aufführungsdauer recht groß, genauer: bewusst monströs geratenen Werks unten an der Rampe die stehenden Ovationen entgegenzunehmen, nebst der Blumen, die ich in einer Bühnenecke schon bereitgestellt erspähe: ein ebenfalls überdimensioniertes herzförmiges Rosen-Bouquet.

Warum habe ich diesen so entfernten Platz gewählt? Aus Bescheidenheit – falscher natürlich? Eher weil ich von dort aus ohne aufzufallen gelegentlich den Saal verlassen kann, um die übervolle und sich nach Erleichterung schnell wieder füllende Blase zu entleeren. Ferner erwarte ich einen Anruf, weil ich eigentlich zu einer Party eingeladen bin, wo ich den kollektiven Konsum von hypertrophem Weed gefolgt von nicht minder kollektivem Liebesspiel nicht versäumen mag. Der Weg dorthin führt jetzt im Winter und Schneetreiben über einen Deich, der nur mit dem Fahrrad befahrbar ist. Dafür ist also ein gewisser zeitlicher Vorlauf einzuplanen. Kurzum, das wird zeitlich alles sehr knapp. Eins könne eben nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, murre ich.

Die ohnehin enorm umfangreiche Sinfonie zieht sich unerquicklicherweise durch gewaltig verschleppte Tempi des Dirigenten zusätzlich in die Länge. Die Zeit läuft mir davon. Ich entscheide mich hin und her gerissen schließlich zum Bleiben, umringt nicht nur von den Rosen, sondern auch einer Schar von Rosenkavalierinnen, die mich sinnlich und süchtig nach mir und meiner Musik, im Rausch also von meinen Künsten, überall hin küssen. Dennoch das Gefühl von Mangel in all der in jeder Hinsicht hypertrophen Fülle, weil die Sinfonie in der Wahrnehmung all ihrer Details zu kurz kommt. Ich tröste mich damit, dass hier eben das Leben über die Kunst gesiegt habe. Und eine solche Erfahrung sei doch auch nicht verkehrt, zumal unter therapeutischen Gesichtspunkten.

>> 22.07.2010
>> 22.07.2000
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