Di, 19.1.10 (Mi, 20.1.10, 6:55): Gitternester

In der Zoohandlung wie im Zoo Tiere schauen. Auf der Suche nach Husky-Ratten, sind aber ausverkauft. Bei den Exoten stattdessen Bartagamen beobachtet, wie sie in flinker Bewegung plötzlich innehalten und erstarren, in den ver-rücktesten Posen. Und ausschauen, als schauten sie einen prüfend an. “Oder rauchen Zigarre”, wie Lilly assoziiert.

Frage mich, ob diese Erstarrung aus musternder Neugier erfolgt oder um sich gegenüber mutmaßlichen Fressfeinden tot zu stellen. Die Tiere verharren oft minutenlang so, als säßen sie Modell, wollten sich malen lassen.

Einen Käfig gekauft für die noch nicht vorhandenen Ratten, nebst allerlei Zubehör. Gitternestbaureflex. Seit soundsoviel Tagen, Wochen, Jahren “Gefangener meiner selbst”, jetzt wird das in eine Volière projiziert. Neue Heimat.

Abends dann studiert Lilly Kleinanzeigen, entdeckt abzugebende Rattenkinder, sechs Wochen alt. Wir fahren spontan mit dem Bus nach Neumühlen-Dietrichsdorf – unweit von der Stadtbüchereizweigstelle, wo ich als Kind rattig in den Zeilengittern mich vergrub, Neste dem Geist bauend. Blubb.

Der ruhige Rattenhirte hat ein ganzes eigenes Zimmer für seine Schützlinge. Man sieht ihm an, wie schweren Herzens er sich von den Tierchen trennt. Er verabschiedet sie schnauzenlippstippelnd: “Mach’s gut!” Und noch Tipps, was sie besonders gerne fressen. Lou und Lo schlüpfen in unseren Pappkarton. Verängstigte Wesen. Als wir sie zuhause in den Käfig setzen, dies mitsamt Karton. Zögerlich schauen sie zwischen den dort provisorischen Nestbauten hervor. Am Ende siegt die Neugier – oder der Mut.

Sie verschwinden im Häuschen. Drinnen hört man sie rascheln und schaben. Später am Abend, eingangs zur Nacht, werden sie aktiver und wagen sich auf Expeditionen. Entdeckungsreisen zu den neuen Ufern Trinkflasche und Fressnapf, dabei immer den fluchtartigen Rückweg im Kopf. Planende Flüchtlinge. Nachts hocken wir im Dunkeln vor dem Käfig. Lou ist das keckere Rattenweibchen. Sie erkundet den Weg zum Fressnapf, schickt dann aber die scheuere Lo vor, um Körner ins Häuschen zu schleppen. Darin eifriges Nagen. Manchmal kommen sie ans Gitter ihres neuen Nestes und schnuppern, nehmen menschliche Witterung auf. Sie gehen dabei gleichsam ökonomisch vor. Sie verharren nur so lange wie unbedingt nötig in der Fremde. Von der zweiten Käfig-Etage flugs wieder zurück ins Versteck, aus dem sie die Neugier aber bald wieder treibt.

Erkundungen des Gefängnisses Ich – beiderseits der Gitter.

Ich bin wie Lo, schüchtern und nicht wirklich überzeugt von der bohrenden Neugier in mir, Lilly eher wie Lou, die ihr vor- und umsichtig Leckereien aus der Hand frisst, dabei den Leib gestreckt, um schnell wieder im Häuschen zu verschwinden. Verzehr im Versteck.

Wunder der Natur, wie sie all diese Verhaltensprogramme entwickelt hat, Routinen, um dieses seltsame Unternehmen Leben, also sich selbst zu überleben. Das Nest ist der Fluchtraum. Die Finsternis das Schützende.

Jetzt, früh morgens, fortgesetzt dunkel, verstummt das Knistern und Rascheln hinter Gittern. Und auch hier sind die Kassiber geschrieben und im heimelichen Heu (des Netznestes) sorgsam vergraben. Morgen lesen wir weiter in diesen Knopfaugen, diesen Näschen mit zitternden Tasthaaren.

Plötzlich kann ich das Leben riechen. Und die Gitter sind das schützende Nest, das Basislager. Morgen machen wir uns wieder auf, notdurftgedrungen, also angefüllt mit Neugier, die stärker ist als die Angst.

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