Dokumentation: Projekt PROCNAME.KZ (1990)

„KUNST IN 15 BUCHSTABEN“, „POLITIK in einem WORT“ wollte mein Kollege und Freund W.WANNER im deutschen Herbst 1990 im internen Netz des damaligen IFKKI (Institut für reine und angewandte Kernphysik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) anregen, als er und die „Flying Kiwi Crew“ ein FORTRAN-Programm schrieben (und weiterentwickelten), das es ermöglichte, die Namen von auf der örtlichen VAX gerade bearbeiteten Prozessen nach dem Zufallsprinzip aus einer Liste namens PROCNAME.DAT auszuwählen und zuzuweisen. Stand in den Protokollen der VAX bisher nur der schnöde Name des gerade bearbeiteteten Programms oder der des ihn beauftragenden Users, konnte man nun mit 15-stelligen Prozessnamen Mitteilungen machen, die mit dem laufenden Prozess wenig, aber umso mehr mit der subversiv gesandten Botschaft dessen, der den Prozess auf der VAX gerade laufen ließ, zu tun hatten. Ein Gimmick, das in der Zeit vor dem Internet, 1990, sogleich gern genutzt wurde, weil Physiker, eigentlich nicht mitteilsame Menschen, darin eine Möglichkeit fanden, zu „posten“, was sie jenseits ihrer jeweils laufenden Programme sonst noch so denken.

Anfangs wurde PROCNAME, so hieß das Programm, noch für lustige Mitteilungen genutzt, wie wir sie heute von Twitter und Facebook kennen, eine Art Emoticon in immerhin 15 Buchstaben. Es bot aber auch mehr Potenzial, das ich im Herbst 1990 nutzte, um im allgemein gegenwärtigen Wiedervereinigungstaumel (die Titelseiten der BILD-Zeitung waren in jener Zeit fast täglich von einem schwarz-rot-gelben Banner gesäumt) eine Erinnerungskultur zu installieren.

Denn die deutsch-deutsche Grenze (ich zeichnete sie dick wie verloren zwischen die geografischen Orte der KZ), die gerade vor einem Jahr so unverhofft gefallen war und zum endgültigen Fall tendierte, hatte ja eine Geschichte, an die sich nun kaum noch jemand erinnern wollte (oder konnte): Zwei Weltkriege, den ersten wenn nicht – wie man heute weiß – alleinschuldig, aber doch an vorderster Front vom Deutschen Kaiserreich vom Zaun verbrochen, den zweiten in jedem Fall als Angriffskrieg von deutschem Boden, der ganz Europa verheerte, und im Zuge dessen der industriell organisierte Mord an mindestens 6 Millionen Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen und Andersdenkenden wie etwa Kommunisten oder Religionsgemeinschaften wie Zeugen Jehovas. Mehr solche Schuld aller Deutschen bis hin zu ihren Enkeln und Urenkeln als der nach dem Zweiten Weltkrieg ausbrechende „Kalte Krieg“ schien mir die Teilung Deutschlands zu begründen, die nun ohne Gedächtnis daran aufgehoben wurde.

karte_dd_grenze_kz_300

So sollte meine auf dem jüngsten Gimmick-Programm basierende Aktion PROCNAME.KZ subversiv erinnern an die rund 1.000 KZ (europaweit inklusive Nebenlagern) – mit nur 18 Namen von KZ, die ich in die Datei PROCNAME.DAT eintrug, aus denen sie zufällig für Prozessnamen ausgewählt wurden. Die (Kunst-) Aktion lief während meiner Diplomarbeit am IFKKI vom 29.10. bis zum mehr als symbolischen Datum 9.11.1990.

Namen der rund 1.000 KZ schrieb ich in die Datei PROCNAME.DAT ein, namentlich: AUSCHWITZ, BUCHENWALD, DACHAU, THERESIENSTADT, CHELMNO, SOBIBOR, TREBLINKA, RAVENSBRUECK, SACHSENHAUSEN, BERGEN-BELSEN, NEUENGAMME, BELZEC, MAUTHAUSEN, ESTERWEGEN, DORA (-Unterbau), MAIDANEK … Und so wurden meine Prozesse, die ich in diesen Tagen auf der VAX des IFKKI laufen ließ, Daten von den interplanetarischen Sonden HELIOS 1 & 2 über den Teilchenstrom von der Sonne verarbeitend und interpretierend, nicht mehr nur mit MEYER, sondern den wechselnden Namen der KZ versehen. Was in den Log-Files Reaktionen verursachte, die ich beabsichtigt hatte.

Ergebnisse/Reaktionen (1990)

LogIn-Protokolle/Prozessnamen (Auszüge)

USER | PROCNAME | TERMINAL:

Sunday, 4-NOV-1990 14:40
DROEGE | Bei der Arbeit | LTA14:
MEYER | DACHAU | TTB6:
SIERKS | be happy … | TTA7:

Tuesday, 6-NOV-1990 14:46
MENDE | Dicke Braeute | TTB0:
MEYER | THERESIENSTADT | TTB6:

Thursday, 8-NOV-1990 09:45
HOOP | DROEHNSCHAEDEL | TXA2:
MENDE | Bananenpizza | TTB0:
MEYER | BUCHENWALD | TTB6:
PEHLKE | Tom Bombadil | TXA4:

Friday, 9-NOV-1990 09:43
HOOP | Einheitstag in | TTB0:
MEYER | AUSCHWITZ | TTA3:
SIERKS | be happy … | TTA7:
TIMMRECK | Shalom | TXA5:

Mails

Mail, 7-NOV-1990 15:49
From: WANNER
To: HOOP
Hallo Kai – ich frage mich: handelt es sich bei Deinen Prozessnamen um eine politische Aktion (das Vollmuellen des Muells mit Muell), oder ist es eher Neigung und Erinnerung? Oder gar eine Reaktion auf Joergs KZs? Wir raetseln! -W-W-

Mail, 7-NOV-1990 16:09
From: HOOP
TO: WANNER
Hallo Wolfgang, ich will Dir das Raetseln ersparen: es handelt sich um eine – zugegeben ziemlich primitive – Reaktion auf Joergs KZs. Er hat damit bei mir wohl immerhin etwas von dem erreicht, was er beabsichtigt haben koennte, naemlich mich unangenehm zu beruehren. Wer laesst sich schon gern an diesen Abschnitt unserer Vergangenheit erinnern.
Im uebrigen kann ich der Devise „Politik in einem Wort“ eine Menge abgewinnen.
Nur finde ich das, was ich so tagsueber zu produzieren versuche, schon abschreckend genug, so dass meine Processnamen als halbherzige Bloedeleien ein Versuch sind, diese Truebsal etwas zu kompensieren.
Kai

Mail, 7-NOV-1990 16:23
From: WANNER
To: HOOP
Lieber Kai!
Dank fuer die prompte Antwort. Joerg ist davon angetan, dass wenigstens einer es kapiert hat (im uebrigen ist Joergs Aktion zeitlich befristet). Unproblematisch ist es wohl nicht, aber wenn Bewusstsein nur noch in Feierstunden stattfinden darf (und sonst nicht), muss man wohl manchmal einfach ein bisschen konfrontieren.
Ansonsten finden wir Deine Reaktion garnicht so primitiv, Disneyland ist schliesslich in diesem Zusammenhang eine mindestens ebenso tiefsinnige Provokation. Dieses eine Wort mehr spannt schon eine riesige Weite an Ueberlegungen auf. Sehr gut! (Wobei zu beachten ist, dass es sich hier schon um begrenzte Aktionen handelt, nicht zum Dauer-Gebrauch, das waere schon wieder bedenklich.)
Ansonsten produzieren wir hier auch erschreckende Sachen. Irgendwie sind wir alle drin, in einer Weise oder einer anderen. Wann kommt die Handlung?
Uebrigens ist es legitim, auch mal unpoltisch/lustig&bloed zu sein. Deine Reaktion ist die dritte: Claudia und Bernd fanden’s daneben.
Wolfgang

Review 25 Jahre später

Dieser Tage jährt sich die Befreiung des Vernichtungs-KZ Auschwitz durch Truppen der Roten Armee zum 70. Mal. Dies ist auch Anlass, die damalige Aktion zu dokumentieren. Mehr aber noch – gerade in diesen Tagen des Terrors – mit weniger Sentiment darüber nachzudenken, wie Frieden wäre zwischen den Andersdenkenden, und Verständnis. Am 15.1.1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von sich als „deutsch“ empfindenden Freikorps ermordet … Rosa & Karl waren in all ihrem Kampf für Frieden und Verständigung. Ahnten aber all die Morde im Namen und der Dialektik der Aufklärung.

Trotzalledem!

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