Fr, 8.10.10 (Sa, 9.10.10, 4:38): Jahrmarkt spät abends

Für KN bei Alexander Marcus in der Halle400: Völlig absurdes Schlagertheater, wobei mir der Verdacht kommt, dass es sich bei diesem technoiden Musikantenstadl (bis zur Nichtsmehrsagenheit vereinfachte Schlager- und Volksmusik-Halodrieien, die Marcus „Electrolore“, Mix aus Electro und Folklore, nennt) um ein zum Trash-Exzess getriebenes Ironie-Unternehmen handelt. Irrsinn als höchste Stufe der Ironie, die dort wiederum in einen Ernst umschlägt, in dem erst sie wahrnehmbar ist. Wie das Publikum mitschunkelnd, johlend, Feuerzeug-Chöre schwenkend schwankt zwischen dem Wissen, dass das „bloß“ Trash ist, und dem Gefühl, sich dem unbedingt und fan-mäßig hingeben zu wollen – und auch zu dürfen. Man ist im mullbindenden Müll unter sich wie Kinder, die lustvoll in der nach einem Sturzregen zur Schlammgrube verwandelten Sandkiste „Backe-backe-Liebe-euch-doch-alle“ spielen.

Interessantes Kulturphänomen. Wie ja auch Trash als kulturelle und Genre-Kategorie längst noch nicht erforscht ist. Die unbändige Freude am Trivialen, weil jeder hochkulturelle Ernst heutzutage eh nur noch wie Oberlehrerei und immer schon Karikatur seiner selbst daherkommt. Das können wir auch: gewissermaßen Pop-Art 2.0.

Oder so … In der Besprechung das mit keinem Geringeren als dem Adornoschen Wiesengrund unterfüttert. So bekloppt das alles ist, plötzlich der enorme Spaß daran, diesem analytisch und, an mehrfach Ordnungen überspringenden dialektischen Phänomenen geschult, auf den Grund zu gehen.

Zur Konzert-Tanzparty-Pause ist das allerdings ausreichend erforscht, so dass ich den Abgang mache. Auf dem Rückweg dann wieder so eine herbst-zärtelnde „Grab-Erfahrung“. Schiebe nämlich, die Nach-Zigarette rauchend, das Rad über den Herbst-Jahrmarkt am Willy-Brandt-Ufer. Budenzauber ohne oder mit nur wenigen Menschen. Keiner will Rosen für die Liebste schießen, die Karusselle kurven leer und stoisch ihre Runden, die Zuckerwatte gefriert im nahenden Nachtfrost, die (nicht vorhandene, aber für mich sentimental zu Jahrmärkten gehörende, wenn auch seit Jahrzehnten dort nicht mehr angetroffenene) Geisterbahn ist entgeistert. Überhaupt ist alles entmärchent zu trägem Warten auf heute wohl nicht mehr stattfindenden Konsum von Zerstreuung. Die zu Figuren ihrer eigenen Schießbuden gewordenen Schausteller samt ihrer Niedrignächtelöhner stehen zum Erbarmen traurig an ihren Fahrgeschäften. Echt abgefahren. Selbst die Würstchen auf dem Schwenkgrill, nur noch einige Restexemplare, trauern im holzkohle-verglühenden Schatten ihrer selbst. Ein Friedhof.

Das rührt mich, wie es die wenigen noch anwesenden „Gäste“ vermutlich nur langweilt. Könnte hier ewig verweilen, diesem und meinem Ersterben zuschauen. Stehe am gegenüberliegenden Hörnufer noch eine Weile, erwartend das endgültige Verlöschen der Lichter von Leuchtreklamen, wo schon einzelne Buchstaben ihr Neonröhren verschweigen.

Kühler Wind von Norden. Die zu eng gewordene „Übergangsjacke“ (auch so ein Wort …) zugeknöpft. Nachhause geschlichen. In seliger Melancholie und Endzeitgedanken.

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