Mo, 03.02.2020, 22:41

Immer mal wieder geht es mit mir durch – das experimentelle Denken. Spätestens im Philosophiestudium habe ich gelernt, das Denken laufen zu lassen, ihm Freiraum zu geben, Denksperren zu überwinden, genauer: zu umgehen, sprich taktisch (und nicht nur strategisch) zu denken, experimentell Haltungen einzunehmen. Im Deutschen Herbst bat der Kanzler Schmidt seinen Krisenstab, auch „exotische Lösungen“ in Betracht zu ziehen, worauf gleich mancher jenseits der Werte und Dogmen der auf Menschenrechten (wenigstens dem Anspruch nach) basierenden Verfassung dachte und „das Undenkbare“ in Erwägung zog, nämlich die RAF-Gefangenen „zu beseitigen“ (d.h. zu ermorden), damit sie nicht mehr freigepresst werden könnten. Nicht von der Sache, aber von der Struktur des Denkens her fand ich solches „unbedingtes“ (bewusst schamloses) Denken attraktiv.

Wissend also eigentlich, dass von der Leine gelassenes Denken zur Verwilderung neigt, dass „die Vernunft Ungeheuer gebiert“ (also mittendrin in der „Dialektik der Aufklärung“), denke ich mich dennoch gern um Kopf und Kragen wie heute auch in der Therapiegruppe. Dort geht es um Rückfälle, ihre Vorboten, ihren Verlauf, ihre Folgen. Ich mag Rückfälle nicht verteufeln und versteige mich daher zu dem Gedanken, dass ein Rückfall den Süchtigen auch stärken könne, indem er daraus etwas über sich und die Sucht, ihre Ursachen und Wirkmechanismen lerne. Und spinne in der Darlegung dieses Gedankens diesen noch weiter, überspanne ihn: Dass ich insofern geradezu vermisse, schon mal selbst einen Rückfall erlebt zu haben, weil mir doch damit eine wichtige Erfahrung der Suchtkrankheit bislang entgangen sei. Während ich das – immer begeisternder redend – ausführe, spüre ich die Befriedigung (und nicht zuletzt auch den angenehmen Größenwahn), dass hier in der Therapiegruppe wohl noch niemand „gewagt“ habe, so etwas „Unmögliches“ zu denken, spüre die Befriedigung und den Größenwahn, „schlauer“ als die anderen zu sein, sogar „schlauer“ als der Therapeut.

„Für ein gutes Bonmot bin ich bereit, meine Großmutter zu töten“, nenne ich derlei und verkaufe es mir selbst auch noch als einen guten Gedanken. Die Mitpatienten „erbleichen“. Ich halte das für Erstaunen, Bewunderung meines so „freien“ Denkens. Bis ein wie ich sonst sehr beredter Mitpatient einwirft, er sei von dem sehr betroffen (ich nehme auch Verletztheit wahr), was ich da gerade gesagt hätte. Es sei eine ungemeine Verharmlosung des Rückfalls, der Sucht und des Leids, das aus der Sucht und dem Rückfall entstehe.

Ich wache auf und stimme unbedingt zu, schäme mich. Ich habe wieder nicht aufgepasst – und Opfer gemacht mit einem Gedanken.

>> 03.02.2010
>> 03.02.2000
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