Mi, 23.6.10 (Do, 24.6.10, 4:25): Szenen einer Arbeit

Ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Gewöhnlich in dem Sinne, …

dass Kieler Woche ist und daher erhöhtes Schreibaufkommen,

dass man ob der täglichnächtlichen Wiederholung mü[rb/d]e wird,

dass sich dennoch stündlich Schreib- und “Immer ist Situation”-Zusammenhänge ergeben, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

So heute erst die “Hillside Championship Vol. 3” recherchiert, einen Skater-Wettbewerb am kommenden Sonnabend, für den ich einen Vorbericht schreiben soll. Da sowas “szenig” ist und “szenige” Leute es – trotz Facebook & al. – uncool finden, das irgendwie genauer zu beschreiben, findet man im Netz kaum mehr als den Termin und ein paar Basic-Infos. Für einen Artikel reicht das nicht. Also mit dem Veranstalter, dem echt “kewlen” Kieler Verein “Skateboard Ahoi”, telefoniert. Daraus folgt dann plötzlich Stofffülle, superinteressantes Zeugs, das alles gerne berichtet werden will, aber den Vorbericht aufbläht. Einsame Schreibtischentscheidung dennoch: “Wir” machen das “hundert-plus”, also mehr als 100 Zeilen. Eintauchen in diese Sphäre der Skater, Longboarder, Freestyler und den ganzen anhängenden Kosmos von Hiphop, Reggae, Soundsystems. Und das mal wieder alles voll gut gefunden. (Und ob man sich nicht mal selbst so’n Brettchen untern Kopf rollen sollte. Ich mein’, bevor der Rollstuhl behindertengerecht kommt 😉

Wegen dessen, also Assoziation von Rollbrett, das ich sicher nicht mehr befahren werde, und Rollstuhl, der womöglich irgendwann mal droht, wenn so nachtständig ungesund weiter am Schlagfluss gearbeitet wird, nicht mit dem Rad, sondern mit dem Bus nach Friedrichsort, wo in der Bethlehemkirche Ensembles der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musikfestivals aufspielen. In der Holzkirche mit Seltenheitswert sitzen, Hinterbank links. Paar Reihen weiter, dieser parkinsonsch gebückte Nerd (mein Alter), den man bei jedem solchen Konzert trifft, immer im grauen Anzug, ein bisschen schmuddelig das Teil (wie ich), überbürdend Bravos rufend, und der sich in der Pause zittrig einen Cigarillo anzündet (was mich rührt, seine ganze Erscheinung), der natürlich nicht aufzurauchen ist in einer zu kurzen Pause (für mich indes zu lang). Den Ernst der (zukünftigen) Lage also im Kopf, noch neben dieser jungbrunnentiefen Skateboard-Chose, umschalten etwa auf ein Fragement gebliebenes Streichquartett von Hans Krása, erst im KZ Theresienstadt, dort weiter komponiert auf allem, was als mit Noten Beschreibbarem auffindbar war (ich male mir das aus, was ich da im Programmheft lese), dann 1944 von den Nazischergen in Auschwitz ermordet. Wie klingt die Musik eines so Zerstörten? Seltsam romantisch klingt sie. Dann Dvorák. Und dann Prokofieff, der Kammermusik nicht mochte, wenn er sie aber schrieb, sie dekonstruierte, was wieder unglaublich spannend ist, diesem Kampf zuzuhören, wissend, dass man für dieses Universum dann nur wieder maximal 10 Zeilen Nussschale übrig haben wird. Und dann – ja klar, das passt, denke ich – Schostakowitsch, 3. Streichquartett, da wo F-Dur böse schreit(et), hämmert, pocht, auf Marsch macht, dann gleich wieder gavottisch säuselt, bitter natürlich. Geräusche einer inneren Emigration, einer erzwungenen Einkehr – die Kunst erst ermöglicht.

Das alles denkend, notierend, ist für den Artikel unbrauchbar, zu sehr Situation, zu sehr subjektiv. Objektivierung heißt hier: Runterfahren, Runterbrechen aufs Standardlesermaß, sich wieder Einkriegen. Den Ball flach halten, der von draußen, kaum, aber hörbar, reinkassibert wegen des “Endspiels” D gegen Ghana, Einzug ins Achtelfinale. Die Tröten. Dabei finden hier, hier, wo ich sitze und lausche, die wirklichen Endspiele statt, die Aufbäumungen in die Endzeit.

Und dann denke ich wieder: Schön, dass ich das so beurteile. Aber wer bin ich denn, denen da draußen zu sagen, sie hätten keine Ahnung von dem, was “wirklich” sei, was Entscheidung sei, diese immer einsame von Künstlern, von …

Als Rufer in der Wüste muss man in die Wüste rufen, nicht in grünbegraste Paradiese, mögen die auch nur pseudo sein.

Erfrischend dann die jungen Musiker der Orchesterakademie, die in der Pause ihre Handy-Ticker studieren. Wie steht’s? Null zu Null immer noch – was ich notiere, schönes Bonmot für diese Musiken, die sich an den doppelten Nullpunkt der Existenz herantrauen. Unschreibbar auch dies in 80 Zeilen KN.

Der Treffer fällt erst, als ich schon wieder an der Bushaltestelle bin. “Einmal Holstenbrücke bitte!” “Zweizwanzig”, sagt der Busfahrer. Und: “Übrigens: 1:0 für D.”

Lade mir während der Busfahrt einen WM-Ticker aufs iPhone runter. Weitweitentfernt sitzt da einer, der jetzt auch Text tippt. Im Minutentakt der Endspiele. (Das erlösende Tor fiel zur vollen Stunde (nicht 5 vor), in der 60. Minute.)

— snip! —

P.L. schreibt Mail wegen der Flugschrift-Veranstaltung am Montag in Berlin. Weiß immer noch nicht, ob ich es schaffe, da hin zu reisen. Sie bittet um Beurteilungen der Co-Autoren von damals, wie sie jetzt, heute, die Verantwortung der Naturwissenschaft damals sehen. Schreibt, dass W.L. und G.N. das in ihrer Wissenschaft deutlich machen. Allein, wie ögyr? Soll sie “kritischer Journalist” sagen?

Ja, vielleicht. Wobei der Begriff “kritisch” von mir natürlich gleich wieder wortverspielt wird: Ich bin dauernd in einem kritischen Zustand (versetze mich zuweilen mutwillig in solchen, Lilly nennt das meine “Kunstmonstrigkeit”) – und das ist gut so. Ich lasse zu, dass die Kunst, die ich besprechend, Artikel verfassend, weitervermittele, multizipliere, mich nicht kalt lässt, mich nicht “objektiv” macht. Ich lasse mich anfassen von ihr. Tief. Ich lasse mich auch zerstören von ihr, auf Nullpunkte bringen. Ich bemühe mich, anstastbar zu bleiben.

“Antastbarkeit” ist eine Kategorie, die – zumindest als solches Wort – in der Flugschrift noch fehlt. Um sie ging es umfänglich im digi2000. Mit dem Konzept “pretty.public.privacy” habe ich womöglich einige Kapitel der Flugschrift (Ausgabe 2010) konsequent erforscht, weitergedacht und (verantwortungsvoll?) transformiert auf mein jetziges (künstlerisches) Tun: “Autonomie und Verbundenheit” (S. 98), “Vertrauen, Irrationalität & Menschlichkeit” (S. 103).

Und, ja … Ich bin längst kein Naturwissenschaftler mehr. Meine Wendung zur Kunst, mein Berufswechsel zum Journalisten, Autor, vor mehr als 15 Jahren – vielleicht ja die erste der letzten Konsequenzen aus der Flugschrift.

… welches Gerede mir schon wieder viel zu pathetisch, und dadurch unantastbar erscheint. Deshalb raus aus dem Text, auf den Sommer vorm Balkon, Zigarette geraucht und geknippst, wie der Sommer aufgeht, (statt “von weit zu schweigen”). An diesem Morgen, immer ist das Situatsöhnchen, am (bis zum Wecken 😉 Ende der Szenen einer Arbeit.

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