Der Text und sein Hirte

Wie hießen die Weiden, als wir – schon aufrecht gehend – über sie gerannt, doch noch nicht sprachen? Wie nannten wir das Land, das uns Gras bot und die Bäume, in denen wir uns schützende Nester bauten? Wie schien der Himmel über uns, als wir ihn noch nicht Himmel nannten und uns keinen Kinderreim auf „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“ machen konnten?

Benannten wir das Paradies, bevor wir uns daraus vertrieben? Oder war erst Name dafür, als wir es verloren? Wann fingen wir an zu fragen? Schon lange, bevor wir sprachen? Und wer erfand uns, als wir sprachen, die Schrift, diese Verwechslung von Sein und seiner Möglichkeit? „Keiner – einer, drei sind wir, ein Ding, ein Mensch, ein Traum. In der Blutspur, immer noch. Wir. Wir Worte. Wir geben das Verstummen weiter.“

Am Anfang war der Leib, und der Leib war bei mir und nackt und hatte keine Sprache. Am Anfang war der Beat, und der Herzschlag war mein. Ich aber sagte und sprach: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir.“ So sprach der Dichter und sagte also, dass er ein Analphabet sei, denn er ist ihr Hirte, nicht die Schrift. Er führt die Worte auf die Weide, dass sie weiden, sich satt zu fressen am Grün. Wie einst in den Savannen, woher der Mensch kam und sein Gebiss war Zähne, in ein Fleisch zu schlagen, und seine Zunge, das Wasser zu lecken.

Der Dichter erinnert sich daran, indem er singt und nicht nur spricht und schreibt. Indem er ’s Wort auf die Weide führt, wo es wuchs, archaisch, als es noch lange Laut war, Musik, bevor es zum Zeichen wurde, zum Symbol. Und so ist der analphabetische Dichter ein Urtier, immer wieder auf dem Affen des Lautens, ein Vorgeschrifteter, ein Saurier, Säugetier und Sauerteig der Sprache, gärender Gedenker, ein Viech, das gerade erst gelernt zu sprechen.

Und sagt er, spricht er doch und schreibt es auf, das Gedicht, das nah ist an dem Vorher des Gesproch’nen, ist er der Urgrund aller Sprache, ein Turm vor Babel, der an den Himmel reckt die Arme, Hände, die einst werden die Feder und den Stift halten oder auf den Tasten so anstastbar sein.

Denn am Anfang war’n die Weiden, der Hirte und sein Stab statt Stift. Und das Alphabet war, wie jetzt es wieder, ein Alphagebet. Am Ende war das Wort, das an den Anfang führt. Drei davon, du kennst sie, weben weiter die Gedichte – und unsere Geschichte.

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