So, 26.07.2020

Bänkelsang: Auf dem Weg zum Strand in Dänisch-Nienhof, wohin ich die beiden Damen begleite, stehen drei Bänke idyllisch unterm löchrigen grünen Dach.

Bei so Bänken „im Hain“, in der Laube, erinnere ich mich, wie ich mit IHR verliebt (mindestens ich) „auf der blauen Bank“ (oder war es eine weiße?) saß. Die Kinder spielten etwas entfernt, und ich hielt ihre Hand, zumindest griff ich danach. Manchmal willigte sie in die Berührung ein, manchmal zog sie ihre Hand zurück. „Wie Teenager“, dachte ich. Sie wippte mit dem Fuß. Ich begehrte sie. Wir sprachen oder schwiegen.

Daran denke ich immer, wenn ich Bänke sehe. Ich fotografiere diese hier, die ersten beiden noch im lauschigen Laub, die dritte fast schon zu hell beschienen von der zunehmenden Lichtung. Jetzt stehen sie in meinem Poesiealbum. Ich setze mich nicht, ich ritze mein Herz hinein.

>> 26.07.2010
>> 26.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Sa, 25.07.2020

Der Gedanke des verzichten Müssens streckt wieder öfter das Händchen aus dem Grab. Auch eine Form von Eigensinn (wie in dem Märchen von dem eigensinnigen Kind). Besonders beim Einkaufen, wo ich jetzt dauernd Kleingedrucktes vergleiche: Brennwert, Fett- und Zuckergehalt. Die Randbedingungen der gesunden Ernährung schränken die Auswahl enorm ein. Hinzu kommt der Preis, auf den ich achten muss, denn auch beim Gelde herrscht tendenziell bis akut Mangel. So bleiben oft nur das „not for me“-Mantra und der Verzicht. Dasselbe in Berührungsdingen, Begehren. Unerfülltheit, Hunger, Durst allerorten. Die Suchttherapie hat mir die Werkzeuge an die Hand gegeben, mit dem notwendigen Verzicht klarzuommen, nicht aber, den verzicht nicht mehr schmerzlich als solchen zu empfinden. Ich bin ein Gärtner der Dürre, ein Hirte verlorener Herde. Es fehlt die Fülle, das Überbordende, das Dionysische. Es fehlt die Nacht. Es fehlt die Ekstase. Tapfer züchtige ich weiter mein gestörtes Belohnungssystem.

>> 25.07.2010
>> 25.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Fr, 24.07.2020

Im Bus zurück vom Besuch beim Vater dämmere ich vor mich hin. Mein Blick fällt auf die Siebdruckpunkte am Fensterrand, was mich noch tiefer dämmern lässt, wenn die Landschaft oder bei steilerem Winkel die Straßenmarkierungen vorbeieilen. Ich gerate in einen Modus des écrire automatique, parlierender Textfluss, Nonsense-Worte, das aber ungemein eloquent. Ich träume, dass ich IHR vortrage, rezitiere, palavere, dampfplaudere. Sie ist belustigt und sagt: „Jörg, das ist doch Blödsinn, was du da redest – aber brillant vorgetragen.“ Der Schein von Sinn; vielleicht der eigentliche, weil eigensinnige Sinn. Ich doziere dann für SIE über eben diesen im Autopiloten des Textens generierten Begriff: „Eigensinn des Sinns“. Alles Unsinn, bis mir die Siebdruckpunkte vor den Augen Ballett tanzen und ich darin und dabei SIE mit dem Arm um die Taille umschlinge, ihr Arm auf meiner Schulter mit den Fingern an der Halsschlagader.

>> 24.07.2010
>> 24.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Do, 23.07.2020

WIR sitzen (das erste Mal seit Monaten mal wieder nur WIR ZWEI) im Café am Strand. Wir nehmen einen Quick-Podcast auf, Material dafür. Wir produzieren also Kunst. Wir improvisieren. Wir kommen dabei auf das uns beide jeweils bewegende Thema: Nomadentum und die Frage „Wo ist mein Platz?“ Der ist jetzt hier. Strandkörbe, Gespräche.

Auf der Rückfahrt mit der Fähre suche ich nach weiteren abbildbaren Plätzen und Platzsuchen: Ein Möwenjungvogel auf einem Poller, ein Segelboot mit klarem Kurs. Bitte nehmen Sie Platz, halten Sie Abstand!

>> 23.07.2010
>> 23.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Mi, 22.07.2020

Beim Nachmittagsschlaf träume ich von der Uraufführung einer von mir komponierten Sinfonie, die ich „Hypertrophy Symphony – Die Übervollendete“ genannt habe. Der übliche Größenwahn, der im Traum – ebenso üblich – verhindert bleibt. Die Uraufführung findet in einem riesigen, kugelförmigen Hörsaal statt, dessen Sitzreihen enorm steil ansteigen, so steil, dass eins in den obersten Reihen ähnlich einem Anatomie-Hörsaal aus der Vogelperspektive auf die Bühne schaut. Ich habe einen Sitzplatz dort ganz oben, den ich unbefriedigend empfinde, weil hier kaum noch Klang ankommt und weil ich ohne Teleobjektiv keine brauchbaren dokumentierenden Fotos von der Uraufführung machen kann. Überdies ist der Weg viel zu weit, um nach dem Schlussakkord des siebten und letzten Satzes dieses mit gut zwei Stunden Aufführungsdauer recht groß, genauer: bewusst monströs geratenen Werks unten an der Rampe die stehenden Ovationen entgegenzunehmen, nebst der Blumen, die ich in einer Bühnenecke schon bereitgestellt erspähe: ein ebenfalls überdimensioniertes herzförmiges Rosen-Bouquet.

Warum habe ich diesen so entfernten Platz gewählt? Aus Bescheidenheit – falscher natürlich? Eher weil ich von dort aus ohne aufzufallen gelegentlich den Saal verlassen kann, um die übervolle und sich nach Erleichterung schnell wieder füllende Blase zu entleeren. Ferner erwarte ich einen Anruf, weil ich eigentlich zu einer Party eingeladen bin, wo ich den kollektiven Konsum von hypertrophem Weed gefolgt von nicht minder kollektivem Liebesspiel nicht versäumen mag. Der Weg dorthin führt jetzt im Winter und Schneetreiben über einen Deich, der nur mit dem Fahrrad befahrbar ist. Dafür ist also ein gewisser zeitlicher Vorlauf einzuplanen. Kurzum, das wird zeitlich alles sehr knapp. Eins könne eben nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, murre ich.

Die ohnehin enorm umfangreiche Sinfonie zieht sich unerquicklicherweise durch gewaltig verschleppte Tempi des Dirigenten zusätzlich in die Länge. Die Zeit läuft mir davon. Ich entscheide mich hin und her gerissen schließlich zum Bleiben, umringt nicht nur von den Rosen, sondern auch einer Schar von Rosenkavalierinnen, die mich sinnlich und süchtig nach mir und meiner Musik, im Rausch also von meinen Künsten, überall hin küssen. Dennoch das Gefühl von Mangel in all der in jeder Hinsicht hypertrophen Fülle, weil die Sinfonie in der Wahrnehmung all ihrer Details zu kurz kommt. Ich tröste mich damit, dass hier eben das Leben über die Kunst gesiegt habe. Und eine solche Erfahrung sei doch auch nicht verkehrt, zumal unter therapeutischen Gesichtspunkten.

>> 22.07.2010
>> 22.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Di, 21.07.2020

Ich bin wieder in 3D, plastiziere. von der Ebene des Textes in die Möglichkeit einer (greifbaren) Fallhöhe. Die Bewegung der Hand, die Finger als das beste, weil formfühligste Werkzeug. Jedoch ein Gefühl der Eile wie beim Kochen, etwa dass der Ton zu schnell trocknet. Abpassen, wann er am formbarsten, aber nicht zu weich und unstabil ist. Das Material ist mir noch (oder wegen der langen Pause wieder) fremd. Und es ist widerständig, eigensinnig. Es will etwas anderes als ich. Das ist gut, denn ich weiß eigentlich gar nicht, was ich will, habe kaum einen Formgebungsplan. Beim Text tritt so eine Situation eher nicht ein. Eigensinn muss eins dem Wort erst beibiegen. Das ging gut im Rausch, der jedoch jetzt fehlt. Der Eigensinn des Materials Ton braucht den Rausch nicht, er ist von sich aus eigensinnig, wahrscheinlich, weil er weniger abstrakten, (grob-) stofflichen Gesetzen folgt.

Die entstehende Form ähnelt allerdings sehr der vor einem guten Jahr in der Therapie entstandenen. Auf die Ungeübtheit des Formenden antwortet das Material offenbar, indem es sich in bewährte, schon mal ausprobierte Faltungen legt.

>> 21.07.2010
>> 21.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Mo, 20.07.2020

Die Stille nach dem letzten Glas. „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Steh’n.“ Diese Zeile aus einem Lied von Reinhard Mey fällt mir in der Gruppentherapie ein, wo einer der Mitpatienten aus der Therapie entlassen wird. Am Ende der Therapie reden wir immer über das Vorher (der „nassen“ Zeiten) und das nunmehr folgende (hoffnungsfrohe) Nachher. Im Dazwischen war die Therapie. Und was eins da alles gelernt habe. Und vom Stolz über das Geschaffte. Und davon, dass eins weiter vorsichtig und „achtsam“ sein müsse (oder solle oder wolle), weil ja Sucht was Lebenslanges sei.

Ich habe dann immer so andere Zwischengedanken. Jetzt, dass ich Enden und Anfänge nicht so mag, eher so das Dazwischen, das Ausgebreitete, die Fläche, nicht die Punkte, nicht die Pole, sondern die – jaha – Breitengrade dazwischen, lieber Ost-West, statt Nord-Süd. Und so weiter. In solchen Gedanken bin ich inzwischen. Und dann denke ich, dass ich den Gläsern vor dem letzten auch nachtrauere. Das ich diese „ihr Sünden, bleibet weit dahinten“-Geste nicht mag. Da steigere ich mich dann rein. Und dann fällt mir eben das Reinhard Mey-Lied ein, durchzechte Nächte mit schlauen Gesprächen. Da hilft’s auch nicht zu wissen, dass die Gespräche nur schlau schienen. So wie jetzt diese Gedanken auch nur scheinbar schlau sind. Oder widerständig oder so, oder meinetwegen revolutionär.

Und dann fällt mir ein, und dann sage ich das auch, dass nämlich Abstinenz auch echt ein Wagnis sei, betrachte eins die Kollateralschäden. Und schließlich seien die bei mir gewaltig. Ich nämlich, und ich sei ja schließlich nicht nur Journalist, der den Treibstoff brauchte, sondern auch und besonders und vor allem Autor, der den Treibstoff noch nötiger brauchen wird, und der, der Autor also, könne nicht mehr schreiben, nur noch aufschreiben (und auch das zunehmend weniger und vor allem schlechter).

Stille.

Das ausgedehnte Nachher nach dem letzten Glas im Steh’n. Und das eben jetzt seit geraumer Zeit. Über ein Jahr. Und also leerer Raum. Den habe ich versucht, mit Plastiken zu füllen, was Dreidimensionalem aus Ton, der – wie ich – trocknet. Austrocknet!

Nun, ich will bei der Wahrheit bleiben. Ganz so dramatisch, wie das in obig aufgeschriebenem Text klingt, ist es nicht. Dramatischer ist, dass ich im Retromodus in Sachen „Text über den Text“ bin. Das da so ganz viel von früher, von vorher, davor drin ist, anklingt, rausschreit. Dass ich halbvolle Gläser zu halbleeren erkläre, das ist das kleine, neu inszenierte Drama von heute wie damals. Das ist die Stille nach dem letzten Glas, die laute Stille all die hunderte, tausende Gläser im Dazwischen davor.

>> 20.07.2010
>> 20.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

So, 19.07.2020

Projekt Erinnerung heute technisch: Weitere Daten für Einkommensteuer 2019 versammelt. Technischer und sinnleerer (im Sinne von (fehlender) Bedeutsamkeit) geht’s nicht, daher eine Qual. Dann die Datenflut auf den Macs und dem iPhone geordnet und Speicher freigeräumt. Auf über 16 GB sind die Datenaustausche mit IHR auf dem iPhone seit November 2017 angewachsen. Ich lagere das auf Festplatte aus, um Platz zu schaffen. Vor allem aber, um es nicht zu verlieren. Es ist ein Protokoll vieler meiner Empfindungen und Gedanken der letzten drei Jahre – in Bezug auf SIE, aber auch darüber hinaus. Dabei bemerke ich mit Wehmut, wie eng (nicht nur nah) der Kontakt mit IHR mal war. Selfies, auf denen wir „wie ein Paar“ in die Frontcam des Smartphones lächeln. Es war Sommer wie jetzt. Damals war mir das alles noch zu wenig, ich wollte sehnsüchtig immer mehr. Jetzt sehe ich, welche Fülle da war. Händchen halten? Ich streichle, als ich das Backup starte, mit den Fingern der linken über den Rücken der rechten, der vorgestern am Meer ein wenig Farbe bekommen hat. Seit Monaten keine Berührungen, kein Haut an Haut mehr. Ich ertaste den Mangel. Antastbarkeit.

>> 19.07.2010
>> 19.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Sa, 18.07.2020

Verhuschter Tag 2.0. Morgens schickt SIE mir bei WhatsApp das Foto eines Pappelsamens, der von der Abendsonne gestern beschienen wurde, nachmittags das Foto eines Schmetterlings (Tagpfauenauge), der gestern da war und sie „heute wieder besuchte“. Ich bin ein Schmetterling, denke ich und lese mich dann stundenlang bei Wikipedia fest, nicht nur über Schmetterlinge. Dann leichter Frühabendschlaf mit Träumen von der – der Begriff fällt mir im Traum ein – „Erotik der Natur“. Streicheleinheiten von tuffigen Pappelsamen und Hauch auf der Haut vom nahen Vorbeiflug eines Schmetterlings. Im TV abends passenderweise Doku über die Geschichte der Love Parade. Untertitel: „Als die Liebe tanzen lernte“. Höre „Celebration Generation“ von Westbam.

>> 18.07.2010
>> 18.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar

Fr, 17.07.2020

Besuch bei IHR auf dem Campingplatz. Jetzt, wo ich die Sehnsucht und deren belohnungssystematischen Suchtmechanismen besser verstehe, treffe ich sie gleichermaßen unvoreingenommener. Die Sehnsucht reduziert sich auf das Unbehagen am corona-bedingten Abstand, wird aber ausgeglichen von mehr Nähe im von uns beiden unambitioniert befreit geführten freundschaftlichen Gespräch. Ganz gelingt dieser „dritte Weg“ nicht, denn ich verliebe mich gleich wieder in SIE, ihre Gesten, z.B. wie sich ihre Lippen kurz vor dem Lachen schürzen, wie sie geht, wie sie die Barfüße bewegt … Verliebtheit allerdings ohne das quälende Gefühl der Unerreichbarkeit und des hitzigen Begehrens, fast jedenfalls. Später badet sie im Gegenlicht, stakst supersüß zwischen den Steinen am Grund und den wabernden Algen und balanciert grazil dabei mit den Armen, die Hände leicht durchs Wasser führend. Sommerliebe. Mein Herz hüpft freudig und ein bisschen sentimental.

>> 17.07.2010
>> 17.07.2000
Veröffentlicht unter d.day.2020 | Schreib einen Kommentar